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Kaindl: Ton und Musik,
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hierzu von der malerischen Kunst empfingen, und wir
wissen, daß einige der erhabensten Schöpfungen beider
Arten von Künsten durch den Einfluß der i^atur zustande
kamen. Die Malerei reicht in ihrem Vermögen, sich mit
Nachdruck an die menschlichen Gefühle zu wenden, nicht
an jene wunderbare Macht hinan, welche der Musik eigen
zu sein pflegt Der psychische Einfluß der Malerei ist
mehr auf den intellektuellen Teil unserer Natur — unser
Denken — gerichtet und wendet sich in der Regel nur
indirekt durch Ideenassoziation an das Gefühlsvermögen,
Es gibt jedoch bedeutende Maler, wie Turner, Watts und
Rossetti, deren Gemälde das Gemüt und den idealen Sinn
ebenso unmittelbar ansprechen, wie es die Musik bedeutender
Tondichter tut. In einem hohen Grade ist dies bei
Turner der Fall Er nimmt nicht nur die äußere Natur in
sich auf und malt aus ihr eine Landschaft, sondern er
idealisiert sie und drückt ihr eine Geistigkeit auf, indem er
sich ihrer als eines Mittels für sein inneres Bewußtsein bedient
. Durch ihn erhält die Natur eine tiefere Bedeutung,
als uns ihr Außeres verrät. Das Imaginäre und Suggestive
, das er, gleich allen großen Malern, in seine Werke
hineinträgt, sind das Ergebnis eines Wiederscheins von Gefühlen
, die außerhalb der Natur in ihm erzeugt wurden
und die er uns zu vermitteln sucht, so daß das, was er
malt, nicht bloß die Wiedergabe einer Landschaft ist, wie
man sie, wenn auch noch so getreu, in einer schönen
Farbenphotographie erhalten würde, sondern ein Gemälde,
das von des Künstlers eigenem Geist durchglüht ist. Er
suggeriert uns, was er mit seinem geistigen Auge in ihr
erschaut. —
Den Gegenstand von Musik und Farbe bis zu dem
Punkte au verfolgen, wo sie in der Kunst ein Verbindungsmittel
der Menschen werden, würde
die Grenze dieser Studie überschreiten, denn hierbei erführen
sie durch Einhüllung in eine Atmosphäre von
Geistigkeit, welche sie auf eine höhere Stufe stellt,
eine Umwandlung. Die konkreteren Eigenschaften (wenn
ich ein solches Adjektiv gebrauchen darf) der Musik in
ihrem Verhältnis zur Farbe scheinen einen physischen und
psychischen Vergleich in Bezug auf ihre Ähnlichkeit und
ihre gegenseitigen Einwirkungen, wie sie bei anderen Formen
strahlender Energie vorkommen, zu gestatten. Darüber hinaus
jedoch verlieren sie ihre Wesenheit und werden* bloß
das Vehikel des Geistes, indem sie die Seele in ihrer Betrachtung
der ftfatur und der Kunstwerke in Harmonie mit
allem bringen, was in der äußeren Welt des Stoffes, der
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