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342 Psychische Studien. XXXVII. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1910.)
ihr Erscheinen. Ihr ganzes Sein als seelische Erscheinung
ist nichts anderes als dieses ihr bewußt-Sein: ihr
Enthaltensein oder inhaltliches Vorkommen in irgend einem
Bewußtsein. —
AIP das ist heute unter den Fachmännern der Seelenwissenschaft
allgemein oder fast allgemein anerkannt. Und
es muß jedem unbefangenen Denken von selbst einleuchten.
Es gibt keine unbewußt seelischen Erscheinungen und kann
keine geben, weil das seelische Erscheinungen wären, die in
keiner Seele erscheinen: Gefühle, die doch von niemand gefühlt
, Empfindungen, die auf keine Weise empfunden
werden, und wenn Haeckel gar von unbewußten Vorstellungen
äußerer Gegenstände redet: von „Anschauungen*
oder „ Bildern * der Seele, die dasein sollen, ehe sie oder
ohne daß sie überhaupt jemals in einem Bewußtsein angeschaut
werden, so ist das der offenbarste Widersinn.
„Sehen* und „Bewußtsein* sind nicht von einander zu
trennen. Alles Sehen, alles Anschauen ist ebenso wie alles
Hören, Riechen, Schmecken oder Fühlen immer nur ein
Vorgang im Bewußtsein, aber keiner außerhalb desselben
. Nicht unser Auge entwirft uns oder auch sich
selbst ein „Bild* von den Gegenständen der umgebenden
Außenweit, wie Haeckel meint, sondern die Seele tut es
und zwar im Bewußtsein. Das Auge aber tut dabei nichts
weiter als daß es die äußeren physikalischen Reize (Licht-
wellen) aufnimmt, sie in andere Formen körperlicher Bewegungen
oder Arbeitsleistungen umsetzt und dem Gehirn
übermittelt (L. 117). Und das sogenannte Netzhautbild,
das den großen „Philosophen* Ernst Haeckel zu dem
wunderlichen Glauben an ein Sehen, Wahrnehmen oder
Bild erentwerfen des Auges selbst verführt hat (V. II, 186;
L. 12, 119; vergl. L. 7; W. 50, 67), besteht als solches, als
„Bild* oder „Spiegelung* der Außenwelt gar nicht in dem
Auge selbst, sondern nur in dem Bewußtsein des dem Auge
gegenüberstehenden fremden Beobachters. Ebenso wie das
Bild, das ich vor mir im Spiegel zu sehen meine, fia Wahrheit
als Bild nur in meinem Bewußtsein vorhanden ist,
aber nicht etwa draußen auf dem Glase, das ja nur die
einfallenden Lichtstrahlen in bestimmter Weise zurückwirft
. —
übrigens verraten uns auch schon Haeckel's eigene
Worte, daß er sich bei seiner Loslösung der Empfindung
von Bewußtsein (L. 115) selbst nicht ganz sicher fühlt.
Wenn wir nämlich näher zusehen, so finden wir, daß er
seinen diesbezüglichen Aussprüchen gewöhnlich irgendwelche
einschränkende Bestimmungen hinzufügt. Nicht
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