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v. Schnellen: HaeckePs „Stammesgeschichte des Bewußtseins". 343
das Bewußtsein überhaupt will er den niederen Lebewesen
aberkannt haben, sondern nur ein „gewisses Bewußtsein14
(W. 64), ein „wahres* oder „wirkliches Bewußtsein* (W. 75,
50) oder auch ein „Bewußtsein im engeren Sinne* (W. 72).
Und was versteht er unter einem solchen ? Darüber ist er
mit sich selbst nicht ganz einig. Manchmal ist es ein
„klares Bewußtsein*; denn nur ein solches soll (nach
W. 72 und L. 10) den niederen Tieren, ebenso wie den
Pflanzen und höheren Tieren mit verkümmertem Großhirn
ganz fehlen. Dann wieder erscheint „Bewußtsein* als
gleichbedeutend mit „vernünftigem Denken* oder mit der
Bildung von Urteilen und Schlüssen fW. 72, 76); wie denn
überhaupt Bewußtsein und Vernunft häufig zusammengestellt
und bestimmten Wesen oder Stufen geistiger Entwicklung
mit einander zuerkannt oder abgesprochen
werden (Y. I, 190, 192; W. 51, 71, 76; L. 10, 131),
„wahres Bewußtsein* (Denken und Vernunft), so heißt es
z. B. einmal, seien „nur bei höheren Tieren zu finden*
(W. 75). Zu anderen Zeiten aber ist es wieder das „einheitliche
Bewußtsein*, das als ausschließlicher Besitz nur
der höheren Tiere mit zentralisiertem Nervensystem auftritt
(W. 72). Oder es werden die Empfindungen der Protisten
wohl gar deswegen schon als „unbewußt* bezeichnet,
weil ihnen ein „hochentwickeltes Bewußtsein* fehlt. Ein
„gewisses Bewußtsein* bedeutet danach also eine „einheitliche
Ichvorsteilung* fW. 64). Und das neugeborene Kind
ist nach HaeckeFs Ansicht „noch ganz ohne Bewußtsein*,
weil ihm ein „klares Ichgefühl* oder „Selbstbewußtsein*
fehlt (W. 76; L. 131). Ja, einmal und zwar gerade da, wo
Haeckel sich am schärfsten gegen das „unbegründete
Dogma* von der Bewußtheit aller Empfindung wendet,
lesen wir sogar, die Begriffe des Bewußtseins und der Empfindung
untrennbar zu verknüpfen, sei deshalb so verwerflich
, weil zwar der Mechanismus oder das eigentliche
Wesen des Bewußtseins uns sehr rätselhaft erscheint, sein
Begriff aber vollkommen klar ist: wir wissen, daß wir
wissen, empfinden und wollen" (L. 116).
So schwankt Haeckel unklar zwischen den verschiedensten
Ansichten hin und her. Bald verwechselt er Bewußtsein
mit klarem oder deutlichem Bewußtsein, bald mit vernünftigem
Bewußtsein, bald mit einheitlichem Bewußtsein,
bald mit Ichbewußtsein oder Selbstbewußtsein und bald
wieder mit reflektiertem Be^ ußtsein, wie in der zuletzt angeführten
Stelle (L. 116). Es fehlt ihm also, wie schon
Külpe bemerkt hat, Verständnis oder Kenntnis der einfachen
Tatsache, daß man Empfindungen, Vorstellungen
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