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346 Psychische Studien. XXXVII. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1910.)
übrig. Und es liegt nicht der geringste Grund vor, außer
diesen rein körperliehen Vorgängen noch irgend welche unbewußte
Empfindungen oder etwas Ähnliches anzunehmen.
Es ist genau so, wie wenn ein wirklicher Spiegel hin- und
hergewendet wird: je nach der Richtung der Aufmerksamkeit
wendet sich unsere innere Anschauung bald diesen,
bald jenen Vorgängen in der Großhirnrinde zu und bringt
diese so zum Bewußtsein (L. 136). Wo aber der Spiegel
des Bewußtseins sich abwendet, da verschwinden die betreffenden
Spiegelbilder in nichts und es bleiben nur die
nicht mehr gespiegelten, nicht mehr innerlich angeschauten
Vorgänge in der Großhirnrinde selbst übrig, die wohl unbewußt
, aber nichts Seelisches, sondern etwas rein Körperliches
sind.
Und soweit sie nicht einfach mit undeutlichen, unbeachteten
oder der bewußten Reflexion auf das Ich entbehrenden
Bewußtseinsinhalten verwechselt werden, soweit
sind HaeekePs unbewußte Empfindungen in der Tat nichts
weiter als rein körperliche Vorgänge oder Zustände. Bei
den einzelligen Urtieren liegt das offen auf der Hand.
Hier, so vernahmen wir ja schon, sollen nach Max Ver-
worn's schöner Entdeckung die unbewußten seelischen Vorgänge
der Empfindung und Bewegung noch mit den molekularen
Lebensprozessen im Plasma selbst zusammenfallen
(W. 63; vergl. 47). Aber auch bei den höheren Tieren
steht es nicht anders: nur daß hier aus der Gesamtheit
aller körperlichen Vorgänge als angeblich „ seelische * vorwiegend
die in den Nerven ausgesondert werden. Diese
bloßen Nervenvorgänge heißen bei Haeckel „unbewußte Gefühle
, Empfindungen und Vorstellungen*6 (vgl. W. 47—54;
L. 115, 116); oder vielmehr, sie treten bald ehrlich und
bieder als körperliche Vorgänge, bald wieder verkleidet als
unbewußt seelische Vorgänge auf. Und eben dieser ihr
zweideutiger Charakter, dieser bloße, ihnen bald aufgeheftete
und bald wieder abgenommene Zettel mit der Aufschrift
„ unbewußt seelisch* befähigt sie in Haeckel's Augen,
zwischen der Außenwelt des körperlichen Daseins und der
Innenwelt des Bewußtseins einen fließenden Ubergang, eine
stammesgeschichtliche Brücke herzustellen. Reißt man ihnen
diese falsche Etikette ab, hält man sie bei ihrem wahren
Namen und Wesen als körperliche Vorgänge fest und
zwingt man Haeckel, sie ein- für allemal unzweideutig als
solche anzuerkennen, dann ist sofort auch klar, daß mit
ihnen für die naturwissenschaftliche Erklärung des Bewußtseins
auch nicht das allermindeste gewonnen ist. —
(Schluß folgt.)
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