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Kaindl: Ton und Musik.
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wo sich das Physische in das Psychische zu verlieren
scheint, einer Kegion des Geheimnisvollen, wo die physischen
Schwingungen des harmonischen Schalles in Gemütsbewegung
übergehen und durch diese Verbindung zu ihrer
ausdrucksvollen Sprache werden.*)
Leben wieder harmonischere Formen annehmen, gleichwie die
Farbenpaste durch entsprechende Verdünnung wieder fähig gemacht
wird, die inneren Harmonien der Töne auszudrücken. — Dieser von
der unterbewußten Sphäre ausgebende harmonisierende Einfluß läßt
sich vielleicht am bebten an dem Wirken der dieser Region angehörenden
„Vis medicatrix naturae* (der Naturheilkraft) nachweisen
; denn sie wird bei jeder Gelegenheit, wo Störungen im
Organismus entstehen, sich bestrebt zeigen, sie wieder zu beseitigen
und die körperliche Harmonie oder Gesundheit wieder herzustellen;
und falls sie in einem hinreichenden Maße vorhanden ist und sich
ihrem Wirken keine unübersteiglichen äußeren Hindernisse entgegenstellen
,'wird sie ihr Ziel auch erreichen.
*) Das Buch: „Die Eidophon - Stimmfigurentt von der verstorbenen
Margaret Watts Hughes ist erhältlich bei dem Verleger
von „The Christian Herald Company*, Ltd., 6 Tudor Street, London,
E C, Preis 1 sh. (1 M.). — Das Eidophon, ein von der verstorbenen
Mrs. Margaret Watts Hughes zur Erzeugung dieser Stimmfiguren
erfundenes Instrument, ist um den Preis von 10 sh. 6 p. franko zu
erhalten bei „The Tudor Syndicate*, Ltd. 6a Tudor Street, Black-
friars, London E. C. — Unlängst entdeckte ich in Jean PauFs
„Selina* folgende, auf den von Dr. Fotherby behandelten hochinteressanten
Gegenstand bezügliche Stelle: „Dieses Innere der höheren
menschlichen Natur fängt besonders vor einer Kunst wach und laut
zu werden an, deren Eigentümlichkeit und Auszeichnung vor jeder
anderen Kunst noch nicht recht erkannt worden ist; ich spreche
eben nicht von Dichtkunst und Malerei, sondern von der Tonkunst.
Warum vergißt man darüber, daß die Musik freudige und traurige
Empfindungen verdoppelt, ja sogar selber erzeugt, — daß die Seele
sich in die Reize ihrer Tongebäude wie in Tempel verirrt, — daß sie
allmächtiger und gewaltsamer als jede Kunst uns zwischen Freude
und Schmerz ohne Übergänge in Augenblicken hin- und herstürzt;
ich sage, warum vergißt man eine höhere Eigentümlichkeit von ihr:
ihre Kraft des Heimwehs, nicht ein Heimweh nach einem alten verlassenen
Lande, sondern nach einem unbetretenen, nicht nach einer
Vergangenheit, sondern nach einer Zukunft? Dieses Heimweh, das
für zartere Seelen, in alle ihre anderen, Wirkungen der Entzückung,
wie der Trauer mischt und das eben aus ihr alle unmoralischen, als
Mißtöne, und alles Unreine ausschließt, drückt sich aus durch den
Seufzer, den sowohl der Glückliche, als der Traurige ohne Rücksicht
auf eine Vergangenheit, aber voll einer unaussprechlichen Zukunft
bei den Tönen holt. Nicht erst die Aufeinanderfolge oder Melodie,
sondern sogar der einzelne Ton — lange fortgezogen, besonders als
Dreiklang gehoben — fährt tief in die Nacht unserer Inweit ein
und weckt darin ein Klagen. Daher kommt die Tränengewalt des
langsam einsickernden Adagio statt des überraschenden Platzregens
des Presto, wiewohl sogar das lustige Presto einen Schmerz im
Hinterhalte hegt. Daher bei den meisten Völkern (z. B. Griechen,
Neapolitanern, Russen) die Volkslieder in Molltönen sowohl
jauchzen, als jammern. -* Warum aber gerade die Musik
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