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v. Schnelten: HaeckePs „Stammesgeschichte des Bewußtseins*. 405
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Ting, des ersten einzelligen Lebewesens auch schon das Bewußtsein
gegeben ist, weil Empfinden eben gar nichts
-anderes bedeutet, als das seelische Insichfinden oder das
Bewußtwerden eines Eindruckes.
Außerdem aber begeht Haeckel noch den zweiten
Fehler, anzunehmen, daß mit der zunehmenden Vereinheitlichung
des Bewußtseins in gewissen nervösen Zentralteilen
eines höheren tierischen Organismus dessen übrige Teile
nun der seelischen Innenzustände ganz entbehren. Und
hier setzt er sich sogar mit den Forderungen der Ent-
wickelungslehre in Widerspruch. Denn wenn wir den viel
tiefer stehenden niedrigsten Einzellern noch ein eigenes seelisches
Innenlebeu zugestehen, so werden wir es doch z. B. den
beweglichen roten und weißen Blutkörperchen eines höheren
Tieres nicht absprechen können, zumal da diese, wie alle
anderen Zellen seines Leibes, am letzten Ende doch von
einer einzigen, ebenfalls schon beseelten Zelle, der befruchteten
Eizelle, abstammen (W. 58). Auch liefert uns
ja schon das Traumleben den Beweis dafür, daß es in uns
selbst außer dem gewöhnlichen, wachen Bewußtsein noch
ein zweites gibt, das nicht wie jenes auf der Tätigkeit der
im Schlafe ruhenden Vorderhirnrinde, sondern auf der
niederer Hirnzentren beruht. Und schließlich zeigen Tauben,
Frösche und andere Tier$, die man des Gehirns ganz oder
teilweise beraubt hat, immer noch deutliche Anzeichen von
Empfindung und führen selbst zweckmäßige Bewegungen
aus. Das erkennt auch Haeckel an (L. 10). Und wenn er
diese zweckmäßigen Bewegungen auch mit Recht als Reflexe
auffaßt, so betont er doch auf der anderen Seite
selbst, daß alle Reflexe unbeschadet ihres mechanischen
Charakters doch „psycho-physisehe* Vorgänge sind (W. 65)
und neben ihrer Außenseite der Bewegung stets auch eine
Innenseite der Empfindung haben (W. 48). „Der Bewegung,
die der Reiz hervorruft," sagt er von ihnen, »geht immer
die Empfindung des einwirkenden Reizes voraus" (L. 116;
vgl. 105; W. 48). Und da nicht nur jener Vorgang der
Ernährung, sondern überhaupt alle aktiven Lebensbewegungen
, die nicht willkürlich sind, als Reflexe aufzufassen
sind (W. 50; L. 105), so reicht die Empfindung und mit
ihr das Bewußtsein auch so weit, wie das Leben überhaupt.
Allerdings nehmen an dem höheren Geistesleben
eines menschlichen oder tierischen Organismus nur bebestimmte
, engbegrenzte Stellen seines Nervensystems, nämlich
die Vorderhirnhalbkugeln unmittelbaren Anteil.
Und indem diese die wichtigsten seelischen Aufgaben des
Ganzen entweder allein ausführen oder doch leitend über-
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