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496 Psych. Studien. XXXVIL Jahrg. 9. Heft. (September 1910.)
Die „vielfache Persönlichkeit".*)
Jene merkwürdigen Zustände der Seele, bei denen in
einem Ich eine Spaltung des Bewußtseins vor
sich geht und statt eine Einheit eine „ vielfache Persönlichkeit
* sich in dem Menschen unheilvoll bemerkbar
macht, werden erst in jüngster Zeit wissenschaftlich erforscht
und beobachtet. Hatte man im Mittelalter derartige
Unglückliche wohl der Hexerei bezichtigt und für
vom Teufel besessen erklärt, so haben später einzelne
Dichter eine künstlerische Schilderung solcher Phänomene
versucht, seitdem die Romantik die „ Nachtseiten * der
menschlichen Natur entdeckt hatte. Solche entsetzlichen
Phantasien und Ausartungen seelischer Stimmungen, wie sie
E. T. A. H o f f m a n n und Poe in ihren Erzählungen
packend geschildert haben, werden aber auch im Leben zu
schrecklicher Wahrheit und hören sich im einfachen
Krankenbericht nicht minder entsetzlich und unheimlich
an.
Die ausführliche Schilderung einer solchen „vielfachen
Persönlichkeit* versuchte der Bostoner Arzt Morton
Prince in seinem kürzlich veröffentlichten, interessanten
Buche „Die Spaltung einer Persönlichkeit". Er gibt hier
die Erfahrungen und Beobachtungen wieder, die er an
einer Studentin, Miß Christine L. Beauchamp,
während • einer langen Behandlung ihrer Krankheitserscheinungen
gemacht hat. Im Frühling 1898 kam Miß Beauchamp
zu dem Nervenarzt Prince, dem sie über schwere
nervöse Erscheinungen klagte.
Miß B. war Studentin an einem „College* und gab sich
ihren Studien mit großem Eifer hin; unter Büchern vergraben
, hatte sie sich dem Löben völlig entfremdet; sie war
von einer krankhaften Menschenscheu und von einer außerordentlichen
Verschlossenheit und Zurückhaltung befallen.
Sie litt stark an Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit, zeigte
die Merkmale einer mangelhaften Ernährung und starke
Müdigkeit, so daß sie jede Bewegung in freier Luft und
alle körperliche Tätigkeit vermied. Der Arzt bemerkte
nun allmählich, daß vier verschiedene Persönlichkeiten von
dem Körper der jungen Dame Besitz ergriffen, wodurch
sie schrecklichen seelischen Martern ausgesetzt war und in
ihren Vorstellungen und Anschauungen völlig verwirrt wurde.
*) Wir entlehnten diesen wegen Raummangels seither zurückgestellten
Artikel über „Ein psychologisches Rätsel" dem inhaltreichen
„N. Wiener Journal* vom 1. Februar 06. Der wichtige Fall
selbst wurde s. Z. auch in den „Psych. Stud." erörtert. — Red.
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