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532 Psych. Studien. XXXVII. Jahrg. 9. Heft. (September 1910.)
Abendfrieden der Straßen mit seinem häßlichen Gejohle
stundenlang füllte. Und über dem seltsamen Bilde
schwamm in dunkelblauen Abendwolken des Vollmonds
leuchtende Scheibe, und der alte Herr lächelte verschmitzt
und ironisch auf das nächtliche Inferno hernieder.
Otto Fr. Koch.«
Tolstoi über den Selbstmord.*)
Sophie Gräfin Tolstoi veröffentlicht ein hochinteressantes
Schreiben ihres Gatten über den Selbstmord. Die
bemerkenswerte Kundgebung des edlen Denkers und Vorlebers
echten Christentums lautet: „Die Frage, ob der
Mensch im allgemeinen das Recht hat, sich das Leben zu
nehmen, — ist falsch gestellt. Falls er es kann, so hat er
auch ein Recht dazu. Ich bin der Meinung, daß die Möglichkeit
, sich zu töten, ein Rettungsventil ist. Bei dieser
Möglichkeit hat der Mensch nicht das Recht (hier ist der
Ausdruck: recht haben wohl am Platze), zu sagen, das
Leben sei ihm unerträglich. Man kann nicht leben — und
so tötet man sich, und so ist niemand da, der von der Un-
erträglichkeit des Lebens sprechen kann. Dem Menschen
ist die Möglichkeit gegeben, sich zu töten, und deshalb hat
er das Recht, sich zu töten, und er macht auch immerfort
Gebrauch von diesem Rechte, bei Duellen, im Krieg, durch
Ausschweifungen, Alkohol, Tabak, Opium usw. Die Frage
kann nur die sein, ob es vernünftig und sittlich ist
(vernünftig und sittlich deckt sich stets!), sich zu töten?
Nein — es ist unvernünftig, ebenso unvernünftig, wie die
Schößlinge einer Pflanze zu beschneiden, die man vernichten
möchte; sie wird nicht vernichtet, sie wird nur unregelmäßig
wachsen. Das Leben ist unverwüstlich —
es besteht außer Zeit und Raum, und deshalb vermag
der Tod nur seine Form zu ändern, nur seine
Erscheinung in dieser Welt zu unterbrechen.
Wenn ich es aber in dieser Welt unterbreche, so weiß ich
fürs erste nicht, ob seine Erscheinung in einer anderen
Welt mir angenehmer sein wird, und zweitens entziehe ich
mir die Möglichkeit, daß mein „Ich* alles das erprobt und
erlangt, was es in dieser Welt erlangen konnte. Außerdem
und vor allem ist dies deshalb unvernünftig, weil, wenn ich
ein Leben darum abbreche, weil es mir unangenehm
schien, — ich damit bezeuge, daß ich total verfehlte Be-
*) Aus dem Juniheft der „Dokumente des Fortschritts", Berlin,
Georg Keimer.
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