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578 Psych. Studien. XXXVH. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1910.)
oder weniger über jedes Land Europas ausgebreitet hat,
nahm ihren Ursprung in einem Phänomen jener Art, die
man gewöhnlich aus einem sogen. Spukhaus erzählt. In
einem Werke, wie das vorliegende, ist es angezeigt, diese
Klasse von Phänomenen, welche von dem modernen Saddu-
cäertum verachtet und verspottet werden, ernsthaft zu
prüfen. Wenn wir behufs dieser Prüfung die bestbeglaubigten
Beispiele anführen, dann ist die erste Frage
nicht, ob bei denselben jede Minute kritisch exakt berichtet
ist, — welche Geschichte, alt oder modern, entspräche wohl
dieser Forderung? —, sondern ob die Erzählungen überhaupt
den Stempel der Wahrheit tragen, ob genügend Beweise
vorhanden sind, daß sie auf Wirklichkeit beruhen.
Bei dieser Forschung wollen wir zwei Erwägungen im Auge
behalten: wir wollen erstens nicht vergessen, daß, wenn die
Sucht nach Wundern und die Furcht lebhaft angeregt
sind, die Einbildung der Menschen leicht zu Uber-
treibungen neigt, und zweitens festhalten, daß es, wie noch
gezeigt werden soll, hierbei Kollektivhalluzinationen nicht
gibt. Die nächste Frage ist dann, ob, selbst wenn dieser
Spuk in den Häusern oft nichts als Aberglaube des Volkes
ist, nicht doch da und dort eine wahre Tatsache, ein wirkliches
Phänomen zugrunde liegt? Wenn wir aus einer
großen apokryphen Menge die verhältnismäßig wenigen Geschichten
herausnehmen, welche in authentischer
Form und durch glaubwürdige Zeitgenossen bezeugt
sind, bei welchen Zeit, Ort und Personen genau angegeben
sind und welche manchmal sogar eidlich bekräftigt
sind, so sehen wir mit Erstaunen, daß alle die Schreckensgeschichten
von gespenstigen Totengerippen, von Teufeln
mit den regelrechten Hörnern und Schweifen, von nächtlichen
blauen Lichtern und anderen ähnlichen Ausschmückungen
ausscheiden. Es bleibt ein Rest von vergleichsweise
nüchternen und prosaischen Wundern, welche zwar durch
einen bekannten physikalischen Vorgang nicht zu erklären
sind, die aber den übernatürlichen Aufputz entbehren, mit
welchem Anne Radcliffe uns entzückt und welche Horace
Walpole anzuwenden nicht verschmäht. Indes finden wir
statt dessen ein Elepaent, das manche als störend und unwahrscheinlich
betrachten mögen, nämlich das boshafte,
lärmende und launenhafte Wesen, das diese Erscheinungen
fewöhnlich verraten. Wir sind so sehr gewohnt, alle Geisteresuche
, wenn es solche gibt, nicht nur als ernsthaft und
hochbedeutsam, sondern auch als feierlichen und verehrungswürdigen
Charakters anzusehen, daß unser natür-
lichesgund efworbenes Widerstreben gegen die Annahme
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