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584 Psych. Studien. XXXVII. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1910.)
Verwechselung von Religion und Aberglauben gründet und
eigentlich nur Dienst unterster Selbstsucht ausmacht.
Wahre umfassende Ausübung der Religion durch Vollbringen
guter Werke, persönliche und gesellschaftliche Veredelung
und Beglückung ist da fast gänzlich ausgeschlossen.
Das hab- und beutelüsterne Menschentier verrichet die
verordneten Äußerlichkeiten, ohne um Inhalt und Endziel
der Religion sich zu bekümmern, und tritt aus dem Tempel
ebenso moralisch unrein, wie es in demselben eintrat. Zu
solchem Treiben bedarf es keiner Religion und Kirche,
sondern es genügen Wirtshaus und Börse, wo niemand an
sich zu arbeiten braucht und sämtliche Laster gezüchtet
werden.
Wer wahre Religion ausüben will, muß dazu vorbereitet
und edlen Gemütes sein; wer diese Forderung nicht
erfüllt, wird mit seiner religiösen Praxis kein höheres Interesse
fördern, zu keiner höheren Stufe der moralischen Entwicklung
emporsteigen. Zu den Bedingungen guter und
wirksamer Ausübung der Religion gehören Gesundheit der
Seele, umfassende Erziehung, Edelmut, genügende Erleuchtung
und Freiheit von dem Sklaventum niederer
Leidenschaften. Dies alles muß jeder zu gewinnen suchen,
und was er nicht durch Erziehung bekam, muß auf dem
Wege strenger Selbsterziehung ergänzt und erworben
werden. Solche Vorbereitung zu religiöser Ausübung im
weiteren Sinne, solche emsige Arbeit an sich selbst hat nichts
Egoistisches, sondern kommt sowohl dem Individuum, wie
der ganzen Gemeinschaft zu gut, fördert also Heil und höchste
Interessen beider in dem gleichen Maße und mit der
gleichen Notwendigkeit. Wenn alle Religion ausüben und
alle geeignet sein sollen, so muß jedes Individuum Religion
ausüben und dazu geeignet sein. Und indem das Einzelwesen
dieser Art sich betätigt, wirkt es als Anstoß und
Vorbild auf das andere Individuum. Ist Praxis der Religion
in edelster Auffassung Gemüts- und Geistesangelegenheit
der sozialen Gesamtheit, so kann das Böse nicht Gewitterwolken
bilden, nicht durch tödlich wirkende Einschläge
und Erschütterungen Leben und Glückseligkeit
bedrohen.
Gar mannigfaltig sind die Vorstellungen über den Inhalt
der Praxis der Religion, gleichwie über die Hemmnisse
, welche der Vollführung religiöser Taten sich entgegensetzen
. Solches ist sehr leicht verständlich, wenn
man der Tatsache unendlicher Verschiedenheit der Menschennaturen
gedenkt und in Betrachtung zieht, daß jedes Individuum
, jede Gruppe unter anderen Verhältnissen sich
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