http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1910/0589
I
Reich: Ausübung der Religion. 585
entwickelt. Die wenigsten Leute wissen, was Religion ist,
und noch weniger Personen machen Grund und Zweck
ausübender Keligion sich klar; selbst bei den Führern und
Leitern der großen Herden des Menschentiers wird man,
auch noch so aufmerksam suchend, korrekte Vorstellungen
über diese Angelegenheit kaum finden. Man spreche hier
von Unheil und erkenne dessen Ursache in schädlichem
Mißbrauch der Religion zu Zwecken gemeinster Selbstsucht
von Einzelnen und Körperschaften.
Viele der angeblichen Heilbesorger der Menschheit
schärften dieser unglückseligen Mehrheit ein, daß Ausübung
der Religion in strengster Vollziehung kirchlicher Äußerlichkeiten
bestehe, verboten jedes Nachdenken über Fragen
der Religion und Inhalt der sogenannten heiligen Bücher,
und betrachteten jede Kritik als Verbrechen; was nicht in
der Art ihrer Kirche getan wurde, war nicht nur nicht getan
, sondern geradezu Untat, welche der Seele Heil verscherzte
. Nun, das Buch der Geschichte verzeichnet die
Folgen solcher Irrtümer, Vergehen, Verbrechen und
Sünden; zahlreiche Kriege und Aufstände wären unterblieben
, glückliche Nationen nicht in den Pfuhl schwersten
Verhängnisses gestoßen worden, wenn Ausübung der Religion
nicht so durch satanische Politik Verderbung erfahren
hätte.
Jede Veräußerlichung der Religion benachteiligt deren
Praxis und dadurch Heil und Wohlfahrt der Einzelwesen
und Gemeinwesen. Es handelt sich also darum, innere
Kultur zu pflegen und wahrhaft verinnerlichte Religion
auszuüben, deren sozialpolitische, juristische, pädagogische
und hygieinisehe Hemmnisse zu entfernen. Wer den ganzen
Tag betet, seine Selbstsucht nicht meistert, seine Mitgeschöpfe
hart behandelt, verfolgt und unterdrückt, ist der
schlechteste Ausüber der Religion und beschwört Äqui-
noctial-Fluten von Unheil und Mißgeschick auf alle Wesen
herab. Wer treuest die asiatisch - afrikanischen Gebräuche
irgend welcher kirchlichen Gemeinschaft vollführt und dabei
unterläßt, sittlich - religiös und hygieiniseh sich zu vervollkommnen
, sowie seinen Mitmenschen jederzeit uneigennützig
helfend beizuspringen, ist Barbar und Menschenfresser
in einer Person und zertrampelt die heiligsten und schönsten
Blüten der Religion.
Ausübung der Religion ist Aufschwung der Seele zu
Gott und den höchsten Idealen, strengste Selbsterziehung,
Uberwindung des Egoismus, bedingungslose Herzlichkeit
und Liebenswürdigkeit für alle Mitwesen, Bekämpfung des
Unheils, Verhütung der Sünde und Erwerbung edler Glück-
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1910/0589