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588 Psych. Studien. XXXVII. Jahrg. 10- Heft. (Oktober 1910.)
geht. Er lehrt, daß die Geister, wenn sie den Körper
verlassen und nach der folgenden Sphäre hinübergehen,
alles mitnehmen, was ihre Individualität kennzeichnet, ebenso
gut die guten als die schlechten Eigenschaften. Wäre dies
nicht der Fall, so würden wir tatsächlich nicht weiter fortbestehen
nach dem Tode. Nimm von jemand nur eine von
seinen guten oder schlechten Eigenschaften, die ihn besonders
charakterisierten, plötzlich hinweg, und er ist derselbe Mensch
nicht mehr, er ist ein ganz anderes Wesen und man kennt
ihn nicht wieder.
Wenn man nun an die Gemeinschaft zwischen dieser
Welt und der der Geister glaubt, dann ist es ebenso natürlich
wie sonnenklar, daß alle Klassen von Geistern uns beeinflussen
können, wenn nur die Umstände auf beiden Seiten
dazu geeignet sind; daß alle Rangstufen geistiger Wesen
uns inspirieren können, uns in Entzückung bringen und
uns Sterbliche manchmal ganz oder teilweise „ kontrollieren*
können. Die höheren Einflüsse nennt man gewöhnlich
„Inspiration* bezw. Trance, die niederen „Obsession*,
„Possession* oder Besessenheit.
Durch die ganze Geschichte hindurch findet man
Zeugnisse von dem goldenen Faden, welcher die sichtbare
und die unsichtbare Welt verbindet. Die Geschichte von
Indien, Ägypten, China, Persien, Griechenland und Rom,
die Geschichtsbücher des Mittelalters und die Nachrichten
über ungebildete Yölker aus allen Weltgegenden zeugen
laut von denselben übernatürlichen Tatsachen, und zwar
ebensowohl von höheren Geistern, wie von tiefer stehenden
und bösartigen geistigen Wesen, welche man „Dämonen*
nennt.
Ein „Dämon* bedeutet ja in unserer heutigen Sprache
ein schlechtes oder sogar teuflisches Wesen, ganz im Widerspruch
zu der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes.
Dämonen und Götter waren bei den Griechen, deren Sprache
dieses Wort entnommen ist, Wörter von ziemlich gleicher
Bedeutung.*) Ursprünglich wurde aber unter „Dämon*
nichts anderes verstanden als der Geist eines verstorbenen
Menschen. Daher ist die Ubersetzung des Wortes „Dämon*
mit „Teufel* in den Büchern des neuen Testamentes unrichtig
; „Dämonen* sind nichts anderes als „Geister*.
Diese unrichtige Ubersetzung hat denn zu allerlei verkehrten
Ansichten Veranlassung gegeben, hauptsächlich zu der
*) JUfjLtav ist im allgemeinen ein nicht näher bekanntes und
daher zunächst unheimliches göttliches Wesen, während einen
bestimmten Gott bezeichnet. — Red.
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