http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1910/0593
Göbel: Prüfet die Geister. 589
kirchlichen Meinung, daß nur teuflische Geister mit den
Menschen in Gemeinschaft treten können und also auch,
daß der Spiritismus satanischer Natur sei. Der Dämon
des Sokrates, der nach seiner eigenen Uberzeugung ihn
vor vielen Gefahren bewahrte, ihm Rat gab in schwierigen
Fällen und sich stets als ein ebenso liebevoller als kluger
Beschützer dieses großen Philosophen zeigte, ist alles weniger
als ein Satan oder böser Geist zu nennen .*)
Wenn man nun fragt, weshalb es nicht nur den guten
und erhabenen Geistern, sondern auch den weniger guten,
unentwickelten und bösen Geistern erlaubt werde, zu der
Menschenwelt zurückzukehren, warum Gott die Pforten
der unsterblichen Welt allen Alten von Geistern, jeder
beliebigen Kontrolle erschließe, da er doch weiß, daß dadurch
Böses und Elend hervorgebracht werden kann, so stellen
wir dagegen die folgenden Fragen, die ebensoviel Recht
zu bestehen haben. Warum legte Gott in jeden Menschen
den Keim zur Entwicklung eines sittlichen, selbständig
handelnden Wesens? Warum ist das Leiden in dieser
Welt erlaubt? Warum muß Macht herrschen über Recht?
Warum wird das Vertrauen so oft betrogen, die Tugend
verhöhnt, der Ehrliche beraubt, der Friedenstifter verleumdet
oder getötet? Wir können all diese „Warum* nicht beantworten
, weil wir eben beschränkte Wesen sind, mit
beschränkten Begriffen und beschränkter Einsicht, weil
wir nur einen kleinen Teil der Erscheinungen sehen und
beobachten, weil wir weder die Ursachen, noch die Folgen
ergründen können. Wir müssen die Tatsachen nehmen,
wie sie sind, und aus ihnen unsre Lebenslehren schöpfen,
auf dieselben unsere Theorien aufbauen. Es ist vollkommen
wahr, daß die Lektionen, die wir in diesem Leben lernen
müssen, uns manchmal schwierig vorkommen, aber wenn
diese Läuterung notwendig ist, um uns dazu geeignet zu
machen, dem „Himmel* nahe zu kommen, so müßten wir
uns schließlich darüber beklagen, daß Gott aus demjenigen,
wan uns als Unordnung erscheint, Ordnung schafft?
In den schwärzesten Regenwolken bildet sich der
farbenreiche Regenbogen, aus der dunklen Erde erhebt
sieh die weiße Lilie, aus dem Sande sprudelt die krystall-
helle Quelle hervor, der herrliche Sommer folgt auf den
*) Vgl. die lichtvollen Ausführungen bei Vesme „Geschichte
des Spiritismus", I. Teil, III. Buch, § 3: „Die griechischen Dämonen4',
§ 4: „Die Geister der Toten bei den Hellenen," § 6: „Die Dämonologie
bei Homer" (S. 213 ff.), sowie besonders das 2. Hauptsttick:
„Sokrates," speziell § 6: „Der Dämon des Sokrates" S. 285 ff.
— Red.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1910/0593