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Seiling: Arthur Schopenhauer, der Mystiker und Okkultist. 611
Christus ein Mensch gewesen sei, ganz frei von allem Bösen
und von allen sündigen Neigungen, so muß (da mit dem
Leibe sündige Neigungen eigentlich notwendig gesetzt sind,
ja der Leib nichts ist als die verkörperte, sichtbar gewordene
sündige Neigung) — Jesu Leib allerdings nur ein
Scheinleib genannt werden. Einen solchen von allen sündigen
Neigungen ganz freien Menschen, einen solchen
Träger eines Scheinleibs, sich als von einer Jungfrau geboren
zu denken, ist ein vortrefflicher Gedanke.* Hierzu
sei nebenbei bemerkt, daß der Philosoph ein Jahr später
während eines Dresdener Aufenthaltes von der Sixtinischen
Madonna zu den folgenden wenig bekannten Versen begeistert
wurde, die namentlich auch deshalb bemerkenswert
sind, weil sie das Wesentliche des Bildes im göttlichen
Kinde erblicken:
Sie trägt zur Welt ihn: und er schaut entsetzt
In ihrer Greu'l chaotische Verwirrung,
In ihres Tobens wilde Raserei,
In ihres Treibens nie geheilte Torheit,
In ihrer Qualen nie gestillten Schmerz, —
Entsetzt: doch strahlet Ruh' und Zuversicht
Und Siegesglanz sein Aug', verkündigend
Schon der Erlösung ewige Gewißheit.
Steht Schopenhauers Hinneigung zur Mystik in engem
Zusammenhang mit seinem philosophischen System, so ist
dies hinsichtlich des Okkultismus in viel geringerem
Grade der Fall. Trotzdem hat der große Denker die
okkulten Phänomene in einer Weise anerkannt, die seiner
Wahrheitsliebe die höchste Ehre macht. Hat er es doch
schließlich vorgezogen, seinem eigenen Lehrsystem Gewalt
anzutun, statt jene Phänomene zu leugnen. Tatsachen
standen ihm eben — im Gegensatz zu so manchem Scheuklappen
tragenden Zunftgelehrten — höher als Theorien.
Die okkulten Phänomene, an welche Schopenhauer
mehr oder weniger ausführliche Erörterungen geknüpft hat,*)
sind: Ahnungen, Wahrträume, sympathetische Kuren, animalischer
Magnetismus, Magie (Hexerei), Tischrücken,
Somnambulismus, Fernsehen in Zeit und Raum, Doppelgängerei
und Geistersehen. Bezüglich ihrer Bedeutung sagt
er, daß sie, wenigstens vom philosophischen Standpunkt aus,
unter allen Tatsachen, welche die gesamte Erfahrung uns
darbietet, ohne allen Vergleich die wichtigsten seien; daher
sich mit ihnen gründlich bekannt zu machen, die Pflicht
eines jeden Gelehrten sei. —
*) Hauptsächlich in den Abhandlungen „Animalischer Magnetismus
und Magie" („Über den Willen in der Natur") und „Versuch
über das Geistersehen und was damit zusammenhängt („Parerga", I),
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