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614 Psych, Studien. XXXVII- Jahrg. 11. Heft. (November 1910)
süchtige Gedanke eines anderen an uns vermag die Vision
seiner Gestalt in unserem Gehirn zu erregen. Namentlich
sind es Sterbende, die dieses Vermögen äußern und daher
in der Stunde ihres Todes ihren abwesenden Freunden erscheinen
, sogar mehreren, an verschiedenen Orten zugleich.
Der Fall ist so oft und von so verschiedenen Seiten erzählt
und beglaubigt worden, daß ich ihn unbedenklich als tatsächlich
begründet nehme." Die Frage spitzt sich also für
unseren Philosophen darauf zu, ob eine solche Vision auch
von einem Verstorbenen erregt werden könne. Da ist er
denn wieder unbefangen genug, im allgemeinen zu erklären:
es sei nicht einzusehen, daß jenes, welches die wundervolle
Erscheinung des Lebens hervorbrachte, nach Beendigung
desselben jeder Einwirkung auf die noch Lebenden durchaus
unfähig sein sollte. Im besonderen freilich kann er als
Systematiker die direkte Einwirkung eines Verstorbenen,
da dieser als Individuum nicht mehr existiere, nicht zugeben
; er greift vielmehr wieder zu seinem für alle okkulten
Phänomene geltenden Erklärungsprinzip, nach
welchem die Einwirkung in außernatürlicher Weise vom
all-einen Willen ausgeht, der ja, sofern er ,.Ding an sich"
ist, vom Tode unberührt bleibt.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Schopenhauer, wenn
er eine weitere Auflage seiner „Parerga" erlebt hätte, seine
Stellung zu der zuletzt berührten Frage etwas verändert
hätte. Er neigte nämlich in seinen letzten Lebensjahren
dazu, dem Individuum eine größere Bedeutung einzuräumen,
als er es früher getan. Am entschiedensten kommt dies
in der folgenden Stelle zum Ausdruck: „Hieraus (aus der
Notwendigkeit des empirischen Charakters) folgt nun
ferner, daß die Individualität nicht durch und durch bloße
Erscheinung ist, sondern daß sie im „Dinge an sich", im
Willen des Einzelnen wurzelt: denn sein Charakter selbst
ist individuell. Wie tief nun aber hier ihre Wurzeln gehen,
gehört zu den Fragen, deren Beantwortung ich nicht übernehme
." („Zur Ethik.") Damit ist die Möglichkeit einer
individuellen Fortdauer und folglich auch die der direkten
Einwirkung eines Verstorbenen gegeben. Gelegentlich
streift übrigens auch der jüngere Schopenhauer die Fesseln
seines Systems ab und schreibt z. B.: „Wir haben gewacht
und werden wieder wachen; das Leben ist eine Nacht, die
ein langer Traum füllt, der oft zum drückenden Alp
wird."
Wer von einem individuellen Weiterleben nach dem
Tode überzeugt ist, braucht sich also durch Schopenhauers
System in keiner Weise beirren zu lassen. Der Wert
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