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636 Psych. Studien. XXXVII. Jahrg. 11. Heft. (November 1910.)
erweiterten Standpunkte aus, wir könnten niemals zwingend
das Dasein einer Geisterwelt beweisen. Abgesehen von
der rein logischen Schwierigkeit des Beweises, trete hier
der weitere Umstand hinzu, daß wir nunmehr imstande wären,
alle Erscheinungen auf solche animistischer Natur zurückzuführen
. Wenn Aksakow diesen Schritt nicht vollzogen
hat, so mußte er Merkmale gefunden haben, die mit größerer
Wahrscheinlichkeit für die Objektivität spiritistischer Phänomene
sprachen; aber hier ist natürlich jede formal erkenntniskritische
Beurteilung belanglos, denn es ist offenbar,
daß über die Merkmale, welche für die Objektivität entscheiden
sollen, nicht der reinen Logik, sondern der jeweiligen
Wissenschaft die Verpflichtung zukommt.
Was nun die spiritistische Hypothese selber anlangt,
so könnten für sie — falls sich Gründe linden sollten,
die ihre* Annahme wahrscheinlich machen — noch andere
Ergebnisse des philosophischen Denkens Wert gewinnen.
Nehmen wir einmal an, es wäre das Fortleben der Seele
nach dem Tode und das Hereinragen einer Geisterwelt in
die unsrige zu äußerster Gewißheit geworden: wie sollen
wir uns das überlebende Prinzip vorstellen? Beinahe alle
Völker bis in die dunkelste Vergangenheit der Geschichte
kennen und glauben eine Fortexistenz der Seele. Fragen
wir nach der Art, wie sie die Seele auffassen, so nennen
sie leichte, wesenlose Gebilde, wie den Hauch des Windes,
die gestaltlose Flamme; die Seele ist von äußerster, feinster
Materie, nicht sichtbar für die Sonne und dennoch fühlbar,
sie durchdringt die Körper wie Wärme und Kälte, ist aller
Schwere überhoben und flüchtig — wie der Gedanke.
Wenn der heutige Kulturmensch uns seine wirkliche Uberzeugung
über das Wesen der Seele mitteilen wollte, so
würden wir wahrscheinlich voller Staunen bemerken, daß
seine Auffassungsweise nicht gar so sehr jener anderen
überlegen ist. Im wesentlichen denkt er sich die Seele
als irgend ein mehr oder minder materielles Fluidum, das
irgendwie durch die vitalen Funktionen des Leibes an
diesen gekettet ist und mit dem Tode, d. h. mit dem Aufhören
dieser vitalen Funktionen entweder selber abstirbt,
oder sich ablöst und auf eigene Faust zu leben beginnt
Es ist kein Zweifel, daß die Trivialität des Gedankens
dieselbe geblieben ist, wenn man auch gelernt hat, sich
in der Weise des Vergleiches gewählter und „wissenschaftlicher
" auszudrücken. Wenn jemand heute aussprechen
wollte, daß der „Sitz* des Denkens im Gehirne sei, so
darf er ernstlich Anspruch darauf erheben, gehört zu werden;
behauptet er weiter, das Denken sei eine Ausscheidung
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