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Kaindl: Die physiologischen Grenzen der Gesichtshalluzination. 641
als logisch berechtigt oder denkbar ist, und daß demnach
die Ansicht der vorgeschritteneren psychischen Forscher
und Spiritualisten, welche vielen Geistererscheinungen eine
objektive Existenz einräumen, auf einer weit sichereren
Grundlage ruht, als man sich bis jetzt vorstellt.
Zunächst befaßt sich der Autor mit den verschiedenen
Begriffen, welche in der einschlägigen Literatur über die
Halluzination anzutreffen sind. Er äußert sich hierüber, wie
folgt: „In den Schriften der Okkultisten, mit Ausnahme
jener der Spiritualisten, gilt zumeist als stillschweigende
Voraussetzung, daß alle visionären Erscheinungen als subjektive
Halluzinationen zu betrachten seien. Unter Halluzination
versteht man für gewöhnlich eine Wahrnehmung,
die durch kein äußeres Objekt veranlaßt wird, im Gegensatz
zu einer Sinneswahrnehmung, welche eine Folge des
Eindruckes ist, den ein außerhalb des Wahrnehmenden befindliches
wirkliches Objekt auf die peripherischen Sinnesorgane
desselben hervorbringt. Man nennt die Halluzination
eine „veridike* (bezw. verifizierbare, d. h. eine sich
bewahrheitende), wenn die Wahrnehmung, obschon sie nicht
durch ein äußeres Objekt veranlaßt sein mag, doch mit
irgend einem entfernten Vorgang oder Ereignisse, das den
Wahrnehmenden telepathisch oder durch irgend einen Ausbruch
aus den Erinnerungen seines subliminalen Bewußtseins
beeinflußt, in Beziehung steht oder hierdurch herbeigeführt
wird. Von den Vertretern der materialistischen
Richtung, welche diese Phänomene nur mit bedeutender
Einschränkung gelten lassen und ihnen den veridiken Charakter
in dem vorerwähnten Sinne gänzlich absprechen,
Averden die visionären Erscheinungen insgesamt auf Ursachen
rein oder halb pathologischer Natur zurückgeführt,
die in dem Nervenorganismus des Wahrnehmenden ihren
Sitz haben.
Zur Erreichung seiner Absicht erachtet es der Verfasser
für geboten, vorerst dem physiologischen Vorgang des
Sehens, sowie den sich hieran knüpfenden wichtigsten
Theorien der Physiologen seine Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Er sagt: „Es wird vor allem nötig sein, dem Nervenmechanismus
des Gesichtssinnes, soweit er bekannt oder
erschlossen ist, indem wir ihn von den Augen zum Gehirne
verfolgen, eine kurze Betrachtung zu widmen, was aber
selbstverständlich nur in einer skizzenhaften Form geschehen
kann.
Professor Wundt's „Prinzipien der physiologischen
Psychologiett ist vielleicht das beste und am meisten auf
der Höhe der Zeit stehende Werk dieser Art, welches
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