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Kaindl: Ein Urteil über die Weinsberger Spukgeschichte. 645
„Gewiß, ein richtiges Argument! Wäre das Phänomen
ein natürliches gewesen, so würden es alle Zuschauer
auf gleiche Weise wahrgenommen haben; so aber
nahm jeder es nach seiner besonderen Kezeptivität dafür
wahr" —
Beim Durchlesen der hier mitgeteilten Bemerkungen
drängt sich einem zunächst die Frage auf, wer es wohl gewesen
sein mag, der in einer so dunklen und so heiklen Sache
ein so besonnenes und sicheres Urteil fällte. Haben wir
es in diesen geistvollen Randbemerkungen mit der Privatmeinung
eines Gelehrten zu tun, der seine innerste Uberzeugung
lieber den Seiten des Buches, worin er las, anvertraute
, als einem Publikum, bei dem er dadurch leicht sein
Ansehen verlieren konnte ? Sollte dem so gewesen sein, so
tat er jedenfalls nicht gut daran; denn wenn man der
Allgemeinheit eine wichtige Wahrheit
vorenthält aus Furcht vor Terrorismus,
der sich ja*überall bemerkbar macht, wo
die Macht der Finsternis am Werke ist, da
eine wahre Aufklärung solcher Mittel nicht nur nicht bedarf
, sondern sie auch verschmähen würde, so heißt
dies dem unheilvollen Wirken jener Macht
bewußten Vorschub leisten. Dieser, sagen wir:
klugen Zurückhaltung haben wir es zu danken, daß unser
gesamtes Leben noch heute von einer Weltanschauung
beherrscht und vergiftet wird, von deren Unhaltbarkeit
jeder halbwegs vernünftig denkende Mensch schon längst
überzeugt sein muß. Ohne ein solch verhängnisvolles
Schweigen einflußreicher Denker würde selbst der Versuch
scheitern, dem Publikum mit Hilfe einer dem
Kapitalismus dienstbaren Presse eine Weltanschauung
aufzudrängen, an deren Erhaltung nur gewisse Koterien
ein Interesse haben.*)
Das Volk, das unterm schweren Druck des Lebens
seufzt und nicht Muße hat, über die tiefsten Fragen des
Daseins selbst nachzudenken und zu forschen, hat dieses
Amt nicht gewissen Ständen anvertraut, um damit Sinekuren
zu schaffen und dafür von den Nutznießern an der
Nase herumgeführt zu werden, sondern es hat das Recht,
für die Opfer, die es bringt, zu verlangen, daß das anvertraute
Amt auch gewissenhaft versehen werde.
*) Kann man sich z. ß. eine den Bestrebungen des Kapitalismus
angemessenere Weltanschauung und Philosophie denken, als
jene, welche den rücksichtslosen Kampf ums Dasein zum Prinzip
erhebt ? K.
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