http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1910/0659
Reich: Leben und Weben des Weibes. * 655
müssen, sondern mit Vernunft, Liebe und rechtem Instinkt
versehen sehr oft als Sieger aus dem großen Kampf hervorgehen
.
Das egoistische System der Arbeit und Gesellschaft,
welches alle schlechten Keime züchtet und die guten nach
Möglichkeit vernichtet, Ausschreitung und Elend setzt, Berufsarbeit
verhindert und an deren Stelle rasende Erwerbswut
losläßt, treibt zu Ehen ohne Liebe, zu zynischer Berechnung
, zu Sünde und Verbrechen am Herrlichsten der
Natur; es verjagt Religion und Poesie, zerstört der göttlichen
Blume Duft und verpestet die Hallen und Gefilde
des Lebens; es zwingt Männer und Frauen, Berufe auszu-
zuüben, welche der Natur von Seele und Organismus widerstreiten
und durch schwere Übel in Reihen von Generationen
sich rächen.
Zu Anfang glauben die armen, von dem System oft
unbewußt Gepeinigten, es gehe alles gut wie naturgemäß
zu, meinen, daß Seele und Organismus ohne weiteres der
unpassenden Erwerbsarbeit sich anpassen. Fehl geschossen!
Es kommt die Stunde der Ernüchterung, und anstatt Anpassung
ganze und volle Entartung. Die Männer werden
weibisch, die Frauen bekunden hier und da männliche
Züge und verlieren nicht selten manchen Zug der Weiblichkeit
, und endlich erscheinen Quacksalber, welche den
Leidenden suggerieren, daß sie einem „dritten Geschlechte*
angehören, das höher sei als Mann und Weib, aber — nur
im Kopfe dieser Bauchredner spukt.
Nun so finden die gröbsten Übel sich zusammen, um
die unglückselige Menschheit zu foltern, und die Matadoren
des egoistischen Systems rauben allem Volke nicht nur
Gemüt, Religion und Liebe, sondern machen die ganze
Menschheit auch noch verrückt, damit dieselbe nur ja nicht
den Weg aus dem Moraste finde, in den sie von Egoisten
gelockt und getrieben wurde. Man setzte der betörten
Masse alles Volks einen gewaltigen Floh in das Ohr, indem
man ihr einflüsterte, es könne jedes Einzelwesen, wenn es
nur wolle, alle denkbaren Güter des Planeten erwerben
und dabei rechtschaffen, moralisch-religiös bleiben, glückselig
werden; und als alles Volk sich anschickte, Erwerbsarbeit
und Dollarjagd mit rasendem Eifer zu vollbringen,
wurde es moralisch verkrüppelt, religiös krumm und bucklig
, atheistisch, unglückselig, gebrechlich und entartet: es verlor
Glauben, Liebe, Hoffnung, ergab sich schweren Lastern,
wurde treulos, räuberisch, betrügerisch, ehebrecherisch.
Man nahm dem Volke seine alten Stützen und, anstatt
Himmels- und Erdenbrotes, Wassers des Heils und see-
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1910/0659