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Glauben und Wissen
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hauptet dann unbestritten da« Feld. Aber der Menschheit
gingen damit ungeheure Werte verloren, wenn diese Theorie
Recht hätte. Was ist die Geschichte der Menschheit ohne
die Heroen der Religion und ohne die Religion der Kleinen,
deren ganzer Idealismus in ihrer Religion beschlossen ist?
Andere sagen, die christliche Dogmatik habe sich überlebt
, nur die christliche Ethik werde immer Recht behalten.
Uber die verpflichtende Geltung der sittlichen Ideale vermag
die Wissenschaft nichts auszusagen. Warme Freunde
der Kunst und Verehrer des Schönen sind darunter. Ist
hier aber nicht auch ein ästhetisches Ideal vorausgesetzt,
worüber die „reine Wissenschaft" nichts auszusagen vermag
, das vielmehr eine Sache des Willens und des Gefühls
ist (emotionales Denken)? Ferner halten dieselben Menschen
, die nur glauben, was sie wissen, doch auf Wahrhaftigkeit
und Treue im persönlichen Leben und setzen es
bei anderen voraus (Familiensinn, Pietät usw.), Eigenschaften
, ohne welche ihnen das Leben nicht lebenswert
wäre. Die Pflege dieser Güter setzt aber ein persönlich
bedingtes Urteil voraus. Das Zutrauen, daß eh uns um das
Gute zu tun ist, ist das Beste und Wertvollste; alles Vertrauen
aber ist persönliche Wertung, nicht unpersönliche
Wissenschaft. Als ein Widerspruch ist es deshalb zu bezeichnen
, wenn man in der Praxis vom Vertrauen lebt und
doch in der Wissenschaft dem Glauben seine Berechtigung
bestreitet. Soll das wertende Erkennen Recht haben auf
allen sonstigen Gebieten und nur in der Frage des Glaubens
Unrecht?
Man sagt auch: die Religion befriedigt das Bedürfnis
des Menschen nach Wohlfahrt und Glück, der Mensch
glaubt also, was er will und braucht, — so sagen die materialistischen
Philosophen bis auf Feuerbach. Der erste Satz
ist annehmbar, der zweite aber nicht sicher; es ist eine
Verwechselung der richtigen Erkenntnis, daß die Religion
Sache des Gemüts ist, mit der anderen: sie gehe hervor
aus dem Gemüt (vergl. den Fehlschluß: weil das Brot den
Hunger stillt, ist es Produkt des Hungers). Die einzige
„ absolute* Erklärung ist diese Theorie nicht. Kant scheidet
das Göttliche aus dem Wissen aus, welche* für Religion
nicht kompetent ist. Verneinung ist nicht Urteil des
Wissens, sondern selbst Ausdruck des Glaubens; folglich
steht nicht Glaube gegen Wissen, sondern Glaube gegen
Glauben. Die Verneinung des Glaubens ist nicht Ergebnis
der Wissenschaft, also ist diese radikale Lösung abzulehnen.
2) Die vermittelnde Theorie macht den Glauben
zu einer Form des Wissens. Wenn aber beide dasselbe
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