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712 Psych. Studien. XXXVII. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1910.)
sind, wie können sie sich widersprechen? Diese Theorie
ist geschichtlich sehr bedeutend und reicht bis in die ersten
Jahrhunderte des Christentums zurück. Im äußeren Zusammenstoß
mit der antiken Wissenschaft hat das Christentum
zwar gesiegt, aber nur um den Preis, daß der wissenschaftliche
Begriff der Antike angenommen ward. Der
Glaube stellte sich selbst als Wissen dar, um sich gegenüber
dem »Wissen* zu behaupten. Es läßt sich eine Linie
durch die ganze Geschichte der Theologie verfolgen, welche
folgende Stationen hat: Origenes, Augustin, Scholastik, prot.
Orthodoxie, Rationalismus, Ilegel und das „Religiöse a priori
tf als jüngste Form. Bei Hegel wird der Glaube degradiert
. Aber man denke an Psalm 73 mit dem souveränen
Ausdruck des Glaubens. Solcher Glaube kann nicht in
einem höheren Wissen untergehen wollen. Der Inhalt der
HegePsehen Religionsphilosophie und der des christlichen
Glaubens sind verschiedene Größen. Nach Objekt und
psychologischer Form ist der Glaube etwas anderes als
«Wissen*: nur Gott ist Objekt des Glaubens, die Welt Objekt
des Wissens, und nur sie. Ein Wissen von Gott gibt
es nicht und wird es nie geben. —
3) Die dritte Lösung, welche das Wissen in einen Glauben
zu verwandeln sucht, ist ebenfalls unmöglich. Vielmehr
lasse man den Glauben Glauben und das Wissen Wissen
sein. Wie verhalten sich beide zu einander? 4) Darüber
gibt Auskunft die vierte Theorie, die kritische, welche
das Problem löst. Glaube ist nicht ein Fürwahrhalten
traditioneller Lehre auf Autorität der Bibel oder sonst
welche. Glaube im religiösen Sinn ist etwas anderes als
Dogmenglaube, Zu Sätzen, die einem innerlich fremd sind,
sich die Zustimmung abquälen, geht gegen die innere
Wahrheit. Mit einer Lehrauffassung des Christentums hat
der Glaube nichts zu tun. Er unterscheidet sieh dadurch,
daß er innerlich wahrhaftig ist, und hat zum Objekt Realitäten
, nicht Lehrsätze, Gott selbst und nicht die Lehre von
Gott. Der psychologischen Form nach ist er Vertrauen,
nicht verstandesmäßiges Fürwahrhalten. Redner erinnerte
an den Geburtstag (10. Nov.) Martin Luther's, der die
Gleichung: Glaube Vertrauen persönlich erlebt hat.
Wohl ist auch er nachher der Tradition erlegen und hat
den Glauben als Lehre gefaßt; aber auf der Höhe seiner
Zeit und seines Wirkens war ihm Glaube — Vertrauen.
Glauben und Wissen haben, richtig verstanden, neben einander
Raum, wenn sie die Grenzen richtig einhalten, wenn
der Glaube nicht naturwissenschaftliche Urteile fällt über
Tatsachen realer Art, z. B. über Geologie und Ähnliches,
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