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Kurze Notizen
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seiner unglücklichen Gattin beweisen, die eigene nächste
Umgebung ein konsequent einfaches Leben nach den
strengen Grundsätzen seiner Moral mehr und mehr unmöglich
machen zu wollen schien. Dieses Leben war, äußerlich
betrachtet, freilich kein glückliches, weil es ihm eben
im Kampf mit einer materialistisch gesinnten, egoistisch
denkenden Umwelt nicht gelang, die, wie ja die ganze geschichtliche
Weiterentwickelung der Lehre Jesu beweist,
praktisch überaus schwer erfüllbaren, weil für gewöhnliche
Sterbliche allzu hohen Forderungen seines idealen Evangeliums
der „frohen Botschaft* wahrer selbstloser Nächstenliebe
gegen den Widerstand träger Durchschnittsmenschen,
bezw. selbstsüchtiger weltlicher Machthaber durchzusetzen.
Geboren auf seinem Familiengut Jaßnaja Polnaja (Gouv.
Tula) am 9. IX. 1828, erregte er durch seine streng abstinente
Lebensweise, seine sonderbare Pflichtauffassung
und namentlich seine alle bisherigen Anschauungen und
Begriffe einer scheinchristlichen „Kulturmenschheit* revolutionierenden
Romane seit Anfang der 70 er Jahre im
Volk, wie in den Kreisen der „Intellektuellen* ungeheures
Aufsehen. Wir nennen aus der großen Zahl seiner Schriften
nur seine unsterblichen, in fast alle Sprachen übersetzten
Bücher „Krieg und Frieden« (1872), „Anna Karenina« (1877)
und sein herrlichstes Werk „Auferstehung* (1899), dessen
Vollendung die eigenen, schwer umgänglichen und vielfach
geistig beschränkten Schüler und Anhänger durch eine Art
rigoroser „Aufsichtsbehörde* zu verhindern suchten. Seine
Negierung aller zu Recht bestehenden Einrichtungen in
Kirche, Staat, Gesellschaft, Familie, sowie seine das „Eigentum
* bedrohenden kommunistischen Tendenzen im Sinne
des Urchristentums mußten notwendig den Bruch mit dem
in seiner Heimat leider noch allmächtigen „heiligen Synod*
herbeiführen, in dessen 1901 durch Exkommunikation erfolgtem
Bann der Märtyrer seiner tiefinnersten Uberzeugung
nunmehr zu dessen ewiger Schaude unversöhnt im
Alter von 82 Jahren gestorben ist. Die „Psych. Studien*
haben ihrem Leserkreis wiederholt Proben seines Geistes
gegeben und teilen den aufrichtigen Schmerz der ganzen
wahrhaft gebildeten Welt über das tragische Ende des
edlen Dulders, dessen Lebenswerk für alle Zeiten ein Denkmal
wahrer Geistesgröße nach dem Vorbild eines Buddha,*)
Sokrates und Jesus bleiben wird.
*) In einer seiner letzten Veröffentlichungen: „Tolstöi,
Briefe an einen Hindu" (Autor. Uebersetzung von Dr. A.
Skarvan, hrsg. und mit Vorwort versehen von Dr. Eugen Heinrich
Schmitt, 38 S., 1910, Verlag von D. M. Waibei, Heidelberg, Preis
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