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2 Psychische Studien. XXXVIII. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1911.)
sagt hatte, sich in die ländliche Einsamkeit zurückzog, um
das „Volk" in seiner ganzen Natürlichkeit zu studieren.
Dort, glaubte er, sei die Wurzel unserer Kraft, von dort
aus, von der Rückkehr zur Ackerbau treibenden Beschäftigung
träumte er die Gesellschaft regenerieren zu
können, deren Zivilisation er auf seinen ausgedehnten
Reisen ins Ausland zur Genüge mit Abscheu kennen gelernt
hatte.
Als Realist von Haus aus — man lese nur seine herrlichen
„ Erzählungen von Sewastopol]u — zeigte er sich doch
bald als einen eigenartigen Humanitäts-Idealisten, und es
ist zu beklagen, daß gerade diejenigen Deutschen, die sich
heute betreffs Tolstöj so au fait zu sein rühmen, manche
seiner Schriften wie: „Der Schneesturm, Die zwei Husaren,
Die Jugend, Albert Luzern, 1 amilienglück* usw. nicht einmal
dem Namen nach kennen.*) So weiß man auch nichts
von seiner pädagogischen Bedeutung.
Und doch hat er durch seine „ Freie Schule * und ein
eigenes Preßorgan zündend hinsichtlich der in Rußland arg
darnied erliegen den Pädagogik gewirkt, wie auch insbesondere
für die Bildung der untersten Schichten des Volkes, vor
allem der Landbevölkerung. Wenn die Errungenschaften
der Kultur nur wenigen bevorzugten Menschen zugute
kommen, so erscheint sie ihm wertlos. Doch gehen wir
hier auf diese seine Eigenarten noch nicht näher ein; erwähnen
wir jedoch hinsichtlich seiner pädagogischen Tätigkeit
noch das 1870 erschienene „ABC-Buch" und rüber
die Volksbildung*.
Dem sein Vaterland und Mütterchen Moskau über
alles liebenden Russen hat er eine „Iliade* in dem wundervollen
historischen Roman „Krieg und Frieden * geschenkt,
der nicht allein vom historischen Gesichtspunkte aus solche
Bedeutung hat, sondern noch in zwei Punkten sich auszeichnet
. Er führt uns lebendig und packend in das damalige
Rußland ein und läßt den Leser die bedeutungsvolle
Zeit von 1812 in einer Weise miterleben, wie es vollendeter
kaum gedacht werden kann. Denn Tolstöfs besondere
Fähigkeit ist es, lebensgetreue Bilder vor die Phantasie zu
zaubern. Dann aber versucht er, die Einzelgestalten, wie
hier den „Empereur", durch die Massen sozusagen zu verdunkeln
, die er allein für das Geschick der Weltgeschichte
als bestimmend hinstellt. Dieser Roman wurde von dem
*) Durch die gleich nach seinem Universitätstudiuni veröffentlichten
Novellen, wie „Die Kindheit, Die Kosaken, Der Morgen eines
Gutsbesitzers, Der Ueberfall", sicherte er sich bereits den Rang
eines erstklassischen Schriftstellers.
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