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4 Psychische Studien. XXXVIII. Jahrg. 1. Heft. (Januar 191U)
hier vertretenen Standpunkt werden wir im weiteren noch
zu behandeln haben.
Den in den Banden des Kapitalismus und autokratischer
Gewalt schmachtenden Russen, allen denen, die
mit anarchistischen und kommunistischen Ideen liebäugeln,
hat Tolstöj in seinen Romanen aus der Seele gesprochen.
Aber nicht bloß als Dichter redet er so, auch als Mensch
sucht er jene Ideen zu verwirklichen und sich selbst unter
seine „Reform" zu knechten.
Und damit begegnen wir ihm als dem „Heiligen von
Jäßnaja Poljäna", zu dem das Volk wallfahrtet, dem Bußprediger
und Vertreter eines praktischen Christentums,
der, gleich Gögolj, wenn auch durchaus nicht in jener orthodox
mystischen Richtung, die Menschheit auf diesem Erdball
zur Natur zurückführen und damit die sozialen Verhältnisse
bessern will.
Als er Ende der 70 er Jahre mit seinen realistisch
theologischen Abhandlungen an die Öffentlichkeit trat, da
schenkte man ihm außer Rußland nicht die geringste Beachtung
und hier auch nur vereinzelt; seine „ Beichte %
„"Worin mein Glaube besteht", „Was ist also zu tun?" und
„Was ist Glück?" würden Kirche und Staat nicht allein,
nein die ganze Menschheit umzugestalten vermocht haben,
wenn das Wort und die bloße Idee mächtigere Gesetze
wären, als das unabänderliche Gesetz des Fortschritts der
keine Sprünge kennenden Entwickelung im eisernen Banne
des „Karmas". Welche Begeisterung unter den Hochschullehrern
und Offizieren in "Rußland seinerzeit Tolstöj durch
Wort und Schrift zu wecken vermochte und dadurch manches
Opfer dem .Nihilismus in die Arme warf, ist leicht zu begreifen
. Das luxuriöse und üppige Leben Petersburgs, das
Paris noch bei weitem übertrifft, fand im Grafen Tolstöj
seinen Bußprediger, und mancher leichtsinnige junge Mann,
namentlich in Offizierskreisen, verdankt ihm zwar seine
Umkehr im bisherigen Lebenswandel, wenn auch nicht die
Befriedigung zu leben. Denn die Tolstöj'sche Philosophie
vermag zwar Resignation zu verleihen, aber nicht Uberwindung
, die Erlösung vom Übel. Er selbst, „angeekelt
von der Sinnlosigkeit des Lebens", war in seiner Gärungsperiode
oft entschlossen, dem ganzen erbärmlichen Dasein
ein Ende zu machen, und sein Umschwung, seine Bekehrung
und der Beginn einer neuen und eigenartigen Lebensweise
vollzog sich erst bei ihm in einem Alter, da viele schon der
Bürde dieses Lebens ganz enthoben werden. Das mußte
Aufsehen erregen und sollte auch Aufsehen erregen. Das
Bild des hohen Aristokraten im einfachen Arbeiterkittel, an
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