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Htibbe-Schleiden: Cazotte's Prophezeiungen.
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habe, was denn sein eigenes Los sei, habe er ausweichend
hingewiesen auf die Erzählung des Josephus, daß bei der
Belagerung Jerusalems ein Mann sieben Tage lang um die
Stadtmauer gegangen sei und mit düsterer, dröhnender
Stimme gerufen habe: „Wehe dir, Jerusalem!tt Am siebenten
Tage habe er gerufen: „Wehe dir, Jerusalem! Wehe mir
selbst!" Da habe ihn ein großer Stein der feindlichen
Wurfmaschinen getroffen und zermalmt. Soweit der von
Petitot veröffentlichte Inhalt aus La Harpens Handschrift
.
Ein psychologischer Unsinn.
Die Schilderung dieses Auftrittes ist ein elendes Machwerk
im Stile eines Hintertreppenromans ohne irgend eine
seelische oder geistige Feinheit darin. Die dichterische Erfindung
ist so plump wie unwahr, sie ist dramatisch sensationell
, aber nur eine abgeschmackte Effekthascherei. Es
ist selbstverständlich, daß eine so brutale Szene in anständiger
Gesellschaft niemals stattgefunden haben kann.
Vor allem aber ist der Vorgang so, wie geschildert, auch
psychologisch ganz unmöglich. Jeder Sachkenner durchschaut
sofort den inneren Widerspruch.
Nicht nur allgemein, sondern auch in dieser Handschrift
wird Cazott© als liebenswürdiger freundlicher
Greis geschildert. Nun tritt er hier in brutaler Weise auf,
indem er jedem Anwesenden einen baldigen Tod grausiger,
gewaltsamer Art voraussagt. Das wäfe doch höchstens zu
begreifen, wenn ein solcher Mann, einmal zum Äußersten
gereizt, vom Zorne überrascht, sich vergäße und zur Selbstverteidigung
oder Rache hingerissen würde. Hier dagegen
soll Cazotte den Leuten ruhigen Blutes alle diese Rohheiten
ins Gesicht geschleudert haben. Das ist keine
wahre „Dichtung", das ist Kinderei. Verschärft wird
dieser psychologische Widersinn dadurch, daß Cazotte
Mystiker wrar und auch als solcher in der Handschrift
selbst geschildert wird. Ein Mystiker, der angeblich die
Seherschaft in sich entwickelt haben soll, muß jedenfalls
spirituell und ethisch so feinsinnig sein, daß er eine so brutale
Szene nicht aufführen, andere Menschen nie in so unfeiner
und unzarter Weise zurechtweisen kann. Solche
Effekthascherei, wie sie dieses Machwerk darstellt, mag
wohl Sache von „wahrsagenden" Marktschreiern sein; wem
aber so etwas passieren kann, der ist kein Mystiker.
Wer immer der Verfasser dieser ungeschickten Szene
ursprünglich gewesen sein mag, jedenfalls hat er gar keine
eigene Erfahrung darin gehabt, wie derartige psychische
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