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30 Psychische Studien. XXXVIII. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1911.)
wüßtes und aktives Ich hat keine Veränderung erlitten.
Ihrer physischen Organe entblößt, sieht sie, hört sie,
fühlt und denkt sie, mit einem Worte, sie ist OMia
ganz und vollkommen. Sie singt, spricht, kommt und geht
mit Gedankenschnelle; sie sagt, was wir tun sollen und nimmt
an der Sitzung teil, wie jeder von uns. Uber dieses Phänomen
herrscht nicht der geringste Zweifel.
Und der Körper? Er liegt auf dem Sopha, wie ich
vermute von einem schwachen Lebenshauch erhalten. Es
ist sehr wahrscheinlich, daß sie ohne Empfindung ist. Um
«das festzustellen, haben wir sie mit einer Nadel in die
Arme gestochen und stark in den Hals gezwickt: man bemerkt
nicht die geringste Zuckung. Während wir eines
Abends dieses grausame Experiment vornahmen, rief Of£li°
Ton der anderen Seite des Saales: „Obacht mit meinem
Körper; rührt die Gestalt nicht an!* Diese Unempfind-
lichkeit des Körpers OMlia's ist nichts Neues für jene,
welche die außerordentlichen Experimente kennen, welche
man im Gebiete des Hypnotismus findet, und die Wunder,
welche die Fakire in Indien erzeugen. Aber wir sind noch
weiter. Wir haben „Mary* eingeladen, den „leeren* Körper
des Mediums für einen Augenblick zu beseelen. Alsbald
erhebt sich der Körper wie von einer Kraft bewegt und
stellt, was man wohl bemerkt, eine von dem rechtmäßigen
Besitzer deutlich verschiedene Persönlichkeit dar. „Mary"
ist inkorporiert in einem Organismus, der ihr nicht gehört
und dessen sie sich bedient, um uns die Sache zu erklären und
sich und uns zu dem neuen Resultat zu beglückwünschen.
Indessen fährt Of£lia fort, am anderen Ende des Saales zu
schwatzen; sie unterbricht das Gespräch mit „Mary" derart,
daß ihr diese in freundschaftlicher Weise Vorwürfe über
ihre Schwatzhaftigkeit macht.
Aber das ist noch nicht alles! Um jeden Zweifel
über ihre Identität zu zerstören, stellt „Mary" einen kleinen
Tisch und einen Sessel in die Mitte des Zimmers, nimmt
Papier und Bleistift, setzt sich und beginnt zu schreiben,
dabei immer sprechend; sie wirft nie einen Blick auf das,
was sie schreibt. Ihre Hand läuft fabelhaft schnell über
das Papier, und was am seltsamsten ist, der Bleistift bewegt
sich wie in der Luft, man hört nicht das leiseste
Geräusch. Einige Augenblicke später überreicht sie uns
das Blatt, auf welchem wir eine Mitteilung lesen in einer
Schrift, die von jener Of £lia?s vollständig verschieden
ist, und was noch erstaunlicher ist, geschrieben in elegantem
und korrektem Englisch (nach dem Urteil jener, welche
diese Sprache gründlich kennen). Einmal nahm „Mary"
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