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38 Psychische Studien. XXXVIII. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1911.)
anderen) an, daß ein sehr großer Teil der Gehirnhälften an
der höchst wichtigen Funktion der Apperzeption oder an
jenen zum großen Teil unterbewußt verlaufenden Denkprozessen
beteiligt ist, wodurch verschiedene Arten von
Sinneseindrüeken, Erinnerungen oder Bewegungsinipulsen
zu einem mehr oder weniger zusammenhängenden Ganzen
verschmolzen werden. In einem Zustand von Gehirnermüdung
werden die Nervenzweige, welche verschiedene
sensorische und apperzeptive Zonen mit einander verbinden,
gehemmt oder verlieren ihr Wirkungsvarmögen und ihre
Leitungsfähigkeit, so daß, wenn in einer sensorischen oder
mnemonischen Zone eine nervöse Entladung oder Reizung
erfolgt, eine solche nervöse Entladung, anstatt andere
Sinnes-Erinnerungen oder -Vorstellungen zu erwecken, die
ihr unter normalen Verhältnissen durch Assoziationsbahnen
zugänglich sind, alsdann ihren Weg anderen, weniger
benützten, doch zurzeit leitungsfähigeren Bahnen entlang
nimmt, welche zu anderen Sinneszonen führen, wohin sie
normalerweise nicht vordringen kann. Folgerichtig könnte
nach dieser Dissoziations - Theorie eine bestimmte Sinnes-
Vorstellung oder -Erinnerung gewisse andere Rinnes-Vorstellungen
oder -Erinnerungen, welche mit ersterer nicht
normal verbunden sind, in Wirksamkeit setzen, wovon das
Resultat eine Reihe von Wahrnehmungen sein würde, die
vom Tages(Wach-)bewußtsein entweder als abnorm oder
verworren („ehaotic*) oder als beides zugleich erkannt
werden.
Auf solche Weise lassen sich die gewöhnlichen Träume
der Hauptsache nach ganz gut erklären: die apperzeptiven
Zentren und normalen Nervenbahnen der Assoziation sind
außer Tätigkeit; doch bleiben noch immer die ursprünglichen
Sinnesempfindungen, welche den Ausgangspunkt der
Reihe bilden, zu erklären übrig. Dies ist in ziemlich befriedigender
Weise geschehen in den Fällen von Träumen
während des Schlafes oder bei halbwachen Träumen oder
Träumereien wo der Perzipient nicht als seiner Umgebung
völlig bewußt angesehen wird.
Es liegt in Bezug auf meinen Hauptzweck kein Grund
vor, mich auf eine Erörterung der supponierten physiologischen
und pathologischen Ursachen, wrelche halluzinatorische
Wahrnehmungen hervorrufen, hier einzulassen; ich hege
bloß die Absicht, zu zeigen, daß, obgleich solche Theorien
nur die zunächst liegenden Ursachen, die man als wirksam
voraussetzt, berühren, es dennoch ernstlich bezweifelt
werden darf, ob die Physiologen je in der Lage sein werden,
zu behaupten, daß alle jene supernormalen Phänomene,
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