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60 Psychische Studien. XXXVIII. Jahrg. I. Heft. (Januar 1911.)
Leben verbindet und zusammenhält. Damit schloß der
fesselnde, mit lebhaftestem Beifall aufgenommene Vortrag,
welcher neue Streiflichter in das so hochinteressante, noch
nicht durchforschte Gebiet der unsichtbaren Naturkräfte
warf.44
Der Gedankenleser Bellini,
das telepathische Phänomen.*)
Unter dieser Uberschrift brachte das sonst sehr skeptische
„Berliner Tageblatt" (Nr. 612, 1. Beiblatt vom
2. Dez. 10) nachstehenden Leitartikel:
„ Irgend woher kommt ein Herr Ernesto Bellini nach
Berlin, kündigt sich auf bunten Plakaten des Apollotheaters
als das „telepathische Phänomen* an und lädt
Bühnenleute, Schriftsteller, Klubmen und elegante Frauen
zu einer FünfuhrsoWe. Er peitscht die müden Weltstadtnervenstränge
eine Stunde hindurch auf. Und wenn man
zum Schluß auf die Friedrichstraße hinaustritt, fragt man
sich zerstört, was man soeben erlebt hat. Gibt es wirklich
noch Dinge zwischen Asphalt und dem dunstigen Weltstadthimmel
, von denen man sich bis heute nichts träumen
ließ? Es scheint fast so! Es ist eine Art Spuk.
Was tut Bellini? Er errät die Gedanken einer beliebigen
Person, insofern sie sich mit Aufträgen beschäftigt,
die er mit einer dritten Person oder einer beliebigen
großen Anzahl von Personen und Gegenständen ausführen
soll. Aufträge, welche die betreffende Person mit sich
selbst oder mit Herrn Bellini auszuführen gedenkt, sind
ausgeschlossen. Etwa ein Herr oder eine Dame aus dem
Publikum denkt sich zum Beispiel, Bellini soll einer bestimmten
dritten Person den Ring vom Finger ziehen und
den Ring dann auf die Bühne tragen und auf den Tisch
legen, dann soll Bellini eine andere Person auf die Bühne
führen und ihr den Ring an den Finger stecken. Die
auftraggebende Person hat nur intensiv an den Auftrag zu
denken, und zwar in der Reihe, in der er ihn ausführen
soll. Oben auf der Bühne steht Bellini, ein Mann von
vierzig Jahren, kurzes gesträubtes volles Haar, ein starker
Schnurrbart und keine Svengaliaugen, sondern ein scharfer
dunkler Blick unter wuschigen Brauen. Er spricht ein
nicht sehr verständliches Deutsch, aber er hat sofort Fühl-
*) Vergl. den eingehenden Bericht unseres Mitarbeiters, J.
III ig (Göppingen) im Febr.-Heft 1910, S. 106 ff., nach dessen genauen
Beobachtungen in Stuttgart an der Echtheit des telepathischen
Phänomens kaum noch ein Zweifel bestehen kann. — Red.
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