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Kurze Notizen.
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Prophezeiung und Wahrsagung auf ihren metaphysischen
Zusammenhang zu untersuchen. Es existieren zwar noch
immer ungläubige Seelen genug, denen das Studium dieser
Frage als eine mittelalterliche Beschäftigung erscheint; aber
man löst, meint Dr. Kemmerich, ein Problem nicht damit,
daß man es leugnet. Daß es aber in der Tat eine Prophezeiung
gebe, dies lehre die Geschichte mit so überraschender
Deutlichkeit, daß ein Zweifel hieran schlechthin nicht mehr
möglich sei. Als Historiker ist denn auch der Vortragende
zu diesem Problem gelangt. Kemmerich schrieb vor einigen
Jahren ein Buch, das sich mit der Lebensdauer und den
Todesursachen der deutschen Kaiser und Könige befaßt.
Hiei will er den Nachweis erbracht haben, daß die moderne
Lehre von der „Dekadenz" keine Berechtigung besitzt, daß
die Menschen vielmehr immer älter werden. Und wie so
oft in demjenigen, der die Wahrheit sucht, das eigene
Studium die ersten Zweifel an der Richtigkeit alter Uberlieferungen
erweckt, so wurde auch Kemmerich durch die
Resultate seiner Forschungen veranlaßt, den Hypothesen
und Dogmen, die unsere scheinbar so aufgeklärte Zeit
noch immer beherrschen, skeptisch gegenüber zu treten.
Solch ein Dogma, das beinahe ebenso alt wie die Menschheit
ist, ist der Glaube, daß es auf Rechnung des Zufalls
zu setzen sei, wenn zuweilen eine Prophezeiung in Erfüllung
geht. Diese Uberzeuguhg vermochte sich nur deshalb so
hartnäckig zu behaupten, weil die wenigsten davon Kenntnis
haben, daß Prophezeiungen in der Geschichte eine überaus
häufige Erscheinung sind. Mit einem wahren Bienenfleiß
ist Kemmerich den tausendfältigen Spuren nachgegangen,
die auf eine Yorhersagung wichtiger historischer Ereignisse
schließen lassen. Das Ergebnis, das demnächst in Buchform
vorliegen wird, ist geradezu verblüffend; denn nach Kemmerich
steht heute fest, daß es kaum ein großes Ereignis
in der Weitgeschichte gibt, das nicht von Kundigen, mitunter
schon um Jahrhunderte voraus, geweissagt worden
ist. Ja sogar nach Tag und Stunde, nach Ort und Persönlichkeit
wurden die Ahnungen prophetisch veranlagter
Xaturen zur Gewißheit. — Es ist selbstverständlich im Rahmen
dieses Berichts nicht möglich, das reiche Material, mit dem
der Vortragende aufzuwarten in der Lage war, auch nur
anzudeuten. Nur darauf sei hingewiesen, daß diese Prophezeiungen
auch für die Ereignisse der neuesten Zeit, wie für
das Erdbeben auf Martinique, den Brand der Lloydschiffe
im Hafen von New-York, den Untergang des „Gneisenau*
zutreffen sollen. Wenn der Vortragende am Schlüsse seiner
Ausführungen der Vermutung Ausdruck gab, es werde
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