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Mel&iiko: Schiller's Jungfrau als Prophetin. 115
III. Abteilung.
Tagesneuigkeiten, Notizen u. dergl.
Schiller's Jungfrau als Prophetin.
Von Irene Meleniko (Stuttgart).
Wahrscheinlich ist über diese „romantische Tragödie*,
wie der Dichter sein Drama nennt, das Meiste, was man
schreiben könnte, schon geschrieben, kaum jedoch allgemein
gelesen worden, daher könnte man bei einigem Mute immerhin
noch etwas Lesestoff hinzufügen. Manche meinen, ein
Stück erleide schon dadurch, daß man es aufführe, verkörpere
, Einbuße an seinem poetischen Gehalte. Daß aber
auch Schauspieler dieser Ansicht sein sollten, wäre viel
verlangt. Das Aufführen bleibt doch wohl das Beste, wenn
Stück und Darsteller darnach sind — und nicht zuletzt
das Publikum.,—
Gerade für das heutige Publikum aber scheint mir
Schiller's Jungfrau wie geschaffen. Männer, die nicht überarbeitet
, Frauen, die begeisterungsfähig sind, Leute mit der
einfachen, natürlichen Meinung, daß es auch noch eine
höhere, eine Oberwelt gibt, — ihnen wird dieses Stück
sicher gefallen. Auf selche aber, die sich auf wissenschaftlicher
Basis bewußt dem Transszendenten zuneigen —
und wie interessant sind die Forschungen, die heute die
Wissenschaft, namentlich die pneumatologische Schule, auf
diesem Gebiete gemacht hat, — müßte es umso tiefer
wirken können.
Von welchem Standpunkte auch immer aber dürfte
wohl die Johanna trotz aller Verlockung nicht in der
Starrolle eines Helden- und Schlachtenweibes dargestellt
werden, — wenn auch eine einzelne hochragende Persönlichkeit
diese Auffassung für sich durchgesetzt haben mag.
Johanna, ein einfaches Hirtenmädchen, erscheint, wie
Schamyl der Murid, oder wie die Seherin von Prevorst,
*) Mit aufrichtigem Vergnügen entsprechen wir durch Abdruck
obiger Studie dem Wunsche einer reichbegabten jungen Künstlerin
, die kürzlich vom Wiener Hofburgtheater an die Stuttgarter
Hofbühne berufen wurde, ihrem Interesse für „Psychische Studien"
durch Mitteilung ihrer originellen Auffassung ihrer Lieblingsrolle
Ausdruck zu geben. Ein Stuttgarter Theaterkritiker charakterisierte
bei ihrem dortigen Auftreten im Kgl. Wilhelmatheater zu Cannstatt
aus Anlaß der vom Württemb. Göthebund veranstalteten Uraufführung
von Gustav Renner's Trauerspiel „Francesea" ihr Spiel in
der Titelrolle fein als den „Frühlingstraum einer knospenden,
scheuen, keuschen Mädchenseele." — Red.
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