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Literaturbericht.
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Die Probleme der Graphologie. Entwurf einer Psychodiagnostik von
Dr. Ludwig Klages, Vorsitzendem der Deutsehen Graphologischen
Gesellschaft. Leipzig 1910. Verlag von J. A. Barth
(XII 260 S. gr. 8 •. Preis geb. 8 M.)
Die Einleitung zu dem ziemlich umfänglichen Werke gibt eine
kurze Geschichte dessen, was man bisher unter Graphologie verstand
— nämlich die Wissenschaft von der Beurteilung des Charakters
nach der Handschrift. Aber nicht damit, sondern einfacher
mit einer Psychologie des Schreibens, mit den verschiedenen Ausdrucksformen
, der graphischen Ausprägung des Temperaments und
der Willensenergie beschäftigt sich dieses Buch, indem es zugleich
Kenntnis geben will von den Bestrebungen der Deutschen Graphologischen
Gesellschaft, die im Laufe von 15 Jahren eine ganze
Reihe interessanter Berichte und Schriftproben veröffentlicht hat.
Mit zahlreichen Schriftproben in größter Mannigfaltigkeit ist auch
das vorliegende Werk ausgestaltet, und es darf wohl gesagt
werden, daß diese eine leichter verständliche Belehrung bieten, als
die begleitenden Auseinandersetzungen, deren Gedanken aus merkwürdig
gewundenen Sätzen, mit mancherlei Exkursen auf psychologische
Nebengebiete, oft recht mühsam herauszulesen sind. So
wird — um nur ein Beispiel zu geben — „die Erforschbarkeit von
Charakteren durch experimentelle Erprobung ihrer Fähigkeitsunterschiede
im Kopfrechnen, Auswendiglernen usw." in Zweifel gezogen
, dafür aber auf „einen kürzeren und weniger uneewissen
Weg" hingewiesen: „Wenn es expressive Funktionen gibt — und
niemand zweifelt daran —, so offenbart ihrer jede das psychische
Ganze, aus dem sie stammt: d. h. den Charakter. Man streife das
denkgeschi htlich befestigte Vorurteil ab, das uns aus Bewegungen
zwar abzulesen erlaubt die affektiven Störungen der Persönlichkeit
, die Gegenwart ih*er selbst zu erkennen aber verbietet
, — und man besitzt im Ausdruck ein Instrument zur De-
markierung des Innenlebens, wie es von gleich universeller
Dienlichkeit kein zweites gibt. Man hat die Seele im Gehirn gesucht
: wir weisen sie nach in der Form, deren sinnlich gegliederte
Teile das regulative Prinzip abgeben zur (ohne
sie gleichsam im Finstern schaltenden) Unterscheidung von Varietäten
des Psychischen" (S. VII). Wernekke.
Das Individuum und die Bewertung menschlicher Existenzen. Von
L v n k e u s, Verfasser der „Phantasien eines Realisten". Dresden,
Carl Reißner. 1910 (223 S. gr. 8).
Nachdem der Verf. auf weitere frühere Veröffentlichungen:
„Das Recht zu leben; und die Pflicht zu sterben" (3. Aufl. 1903)
und „Fundament eines neuen Staatsrechts" (1905) hingewiesen hat,
geht er zu ausführlicher und eindringlicher Darstellung seiner Lehre
über, daß „jede beliebige, nicht lebenbedrohende Existenz gleichwertig
ist jeder andern" — ja etwas so Großes und Unersetzliches,
daß „das Leben auch des unbedeutendsten Individuums jeder Nütz-
lichkeits- oder Schönheitsleistung gegenüber als ein Unendliches
zu gelten hat". Wenn daher ein Individuum, das keines anderen
Leben mit Absicht gefährdet, ohne oder gar wider seinen Willen
aus der Welt verschwindet, so ist das „ein ungleich wichtigeres
Ereignis als alle politischen, religiösen oder nationalen Ereignisse
und als sämtliche wissenschaftliche, künstlerische und technische
Fortschritte allerjahrhunderte und allerVölker zusammengenommen".
Ehrfurchtsvoll sind daher die Worte im Talmud zu betrachten:
vJeder ist verpflichtet, zu sagen: meinetwegen ist die Welt erschaffen
" — und wünschenswert ist als eine Kulturtat ersten
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