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LiteraturberichU 133
Kommunikantin im Jugendschmuck, die ihr Glaubensbekenntnis an
geweihter Stätte ablegt. Es ist das Vermächtnis eines im Alter
von 25 Jahren gestorbenen schönen und edlen Jünglings aus Kopenhagen
, den der Herausgeber im letzten Stadium der Schwindsucht
in einem meist von skandinavischen Kapitänen besuchten Gasthof
zu Leith kennen lernte. Seine feinen Gesichtszüge zeugten von
seiner vornehmen Geburt, seiner Intelligenz und seinem noblen
Charakter; er hatte sanfte, blaue Augen, eine hohe Stirn und hellblondes
Haar; der vorherrschende Ausdruck seiner Physiognomie
war Nachdenklichkeit. Ein englischer Hauslehrer hatte ihm große
Liebe für Poesie und Kunst eingeflößt, welche Gegenstände er auf
der Kopenhagener Akademie studiert hatte. Er saß in seinem
Hotelzimmer aufrecht im Bett und korrigierte eben ein Manuskript,
worin er während seiner langen Krankheit, um sich die Langeweile
zu vertreiben, seine Gedanken über das System des Kosmos vom
Standpunkte des Künstlers und Dichters niedergeschrieben hatte.
„Ich liebe die Schönheit," sagte er, „und in dem Gott, den ich verehre
, sehe ich die Quelle und Verwirklichung aller Schönheit; indem
ich also ruhig in Einsamkeit und Leiden auf das Ende warte,
bin ich zufrieden in dem Gedanken an das, wras das neue Leben
mir bringen wird." Gerührt durch diese hoffnungsvolle Resignation,
bat ihn der Herausgeber, ihm seine Gedanken über die tiefsten
Fragen des Lebens und des Todes aufzuschreiben. Diese vom
Krankenbett aus geschriebenen Briefe liegen nun im obigen Werkchen
vor, das nicht bloß der Erbauung dient, sondern ernsten
philosophischen Charakter trägt. Es ist methodisch zusammengesetzt
und zeichnet sich durch Klarheit der Exposition und einen
an die Euphorie der Sterbenden erinnernden, fast transparent
durchsichtigen Stil aus. Die drei ersten Kapitel handeln von der
Kunst im allgemeinen, der Poesie und den bildenden Künsten. Das
folgende Kapitel „Der göttliche Künstler" gibt den intimsten Gedanken
des Verfassers wieder: „Mache aus deinem ganzen Leben
mit allen seinen großen und kleinen Handlungen — auch die kleinsten
haben einen unendlichen Wert für dich — ein Kunstwerk, dann
wirst du auch konkrete und wirkliche Kunstwerke auf irgend einem
Gebiete geistiger Tätigkeit zustande bringen, die Ewigkeitswert
besitzen." Der Priesterdienst des Schönen hat drei Grade. Den
obersten nehmen die ein, welche ihr Leben der spirituellen Schönheit
als Philosophen weihen, den zweiten die Künstler, welche der
himmlischen Schönheit Gestalt und Ausdruck in Farben, Skulpturen,
Bauten, Tönen und Worten geben, den dritten die Schauspieler im
weitesten Sinne des Worts, welche die Schöpfungen anderer ausführen
und erklären. „Exteriora, interiora, superiora," das ist der
weitere Inhalt des Buchs. Das Aeußere ist die Technik der
Künste, das Innere das individuelle und soziale Leben, das Höhere
die Gottheit, die sich, im Sinne des unendlichen Fortschritts durch
Pflanzen- und Tierreich aufsteigend, in bewußt denkenden Menschen
verkörpert. Der Standpunkt des Verfassers ist monotheistischer
Monismus oder auch Pantheismus mit spiritualistischer Tendenz
zum Individualismus im Sinne eines Goethe und Victor Hugo. „Die
Dichter sind die Seher des Geschlechts; sie sind die Priester und
■ die Propheten der Menschheit. Sie drücken menschliche Gefühle
in edlen Gedanken und in gewinnender Form aus, indem sie die
Seele aufwärts ziehen. Kurz, sie offenbaren der Menschheit das
Geistige und das Ewige" ... „Die Ideale einer edleren und vollkommeneren
Existenz sind das tiefste und am schwersten zu unterdrückende
Gefühl im menschlichen Herzen, ein erhabeneres Gefühl,
als die Einbildungskraft es sich vorstellen kann. Dieses Ideal ist
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