http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1911/0162
158 Psychische Studien. XXXVIII. Jahrg. 3. Heft. (März 1911.)
II. Abteilung.
Theoretisches und Kritisches.
Die physiologischen Grenzen der
Gesichtshalluzination.
Von H. Dennis Taylor.
Übersetzt von Alois K a i n d 1 (Linz a. D.).
(Fortsetzung von Seite 98.)
Für die Objektivität einer Phantom-Erscheinung („appa-
rition") läßt sich ein zweiter Beweis erbringen. Nehmen
wir an, daß der Perzipient (Wahrnehmende) bei Beobachtung
einer Erscheinung seine Augen nicht bloß herumwendet,
sondern auch die Wirkung des Schielens an ihr zu erproben
sucht. Läßt es sich alsdann erwarten, daß die Erscheinung,
wenn halluzinatorisch, doppelt erscheinen wird? Während
der Lehnstuhl infolge der Wirksamkeit der optischen Gesetze
doppelt erscheinen wird, läßt sich nach keiner der physiologischen
Theorien voraussetzen, daß sich das halluzinatorische
Bild ebenfalls in zwei spalten wird.
Dieselben soeben angeführten Gründe haben auch hier
wiederum Geltung, und wir müssen jede Hypothese, wonach
die motorischen und sensorischen Gehirnzentren, welche die
Konvergenz der Augen regeln, mit den ideoformativen
Zentren organisch verbunden wären, wegen des einen Zweckes,
vermittels der binokularen Fähigkeit, eine Erscheinung in
der Umgebung zu lokalisieren, als unhaltbar zurückweisen.
Daher sollte man auch keinesfalls erwarten, daß sich die
durch Schielen bewirkte falsche Wahrnehmung ebenso in
zwei spalten wird, wie die echte Perzeption. Ich denke, man
wird schon jetzt einräumen müssen, daß die Erklärung
aller Erscheinungen (Visionen) durch Halluzination
, an unsere Leichtgläubigkeit eine ebenso
große Anforderung stellt, wie irgendeine der
Hypothesen, die von den Spiritualisten je vor-
gebrachtwurden. Die Theorie, daß die scheinbare Ubereinstimmung
der Erscheinungen (Visionen) mit jenem optischen
Verhalteif, welches im Falle der Wahrnehmung
wirklicher Objekte unwandelbar zu Tage tritt, als eine
Folge von der Erwartung von Seiten des Perzipienten,
daß es sich so verhalten werde, zu erklären sei, hat keine
vernünftigere Grundlage, als jene abgebrauchte Erklärung
ungewöhnlicher Vorgänge oder fremdartiger Mechanismen,
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1911/0162