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Öhler: Der gegenwärtige Stand der Mechanik des Geisteslebens. 169
soweit es das wissenschaftlieh erforschte Gebiet gestattet. —
So wertvoll und interessant nun dieses Buch ist, so besitzt
es dennoch meiner Ansicht nach einen Fehler, welchen ich
nicht erwähnen kann, ohne ihn etwas zu beleuchten.
Nach Prof. M. Verworn's Theorie bilden nicht elektrische
oder der Elektrizität verwandte Strahlungen die
Triebkraft der Gehirntätigkeiten, sondern die sogenannten
dissimilatorischen Erregungen der Zellen. Der Vorgang
dieser Erregungen beruht in einem Zersetzen und Wiederaufbauen
von organischer Substanz und zwar in der Weise,
daß der durch geistige Tätigkeit verbrauchte Stoff wieder
durch neuen Stoff aus dem Blute der Lymphe hergestellt
wird, also ein rein chemischer Vorgang, welcher auch als
die „Selb&terneuerung des Stoffwechsels* bezeichnet wird.
Zum besseren Verständnis der Wirkungsweise dieses Vorganges
ist folgendes chemische Beispiel angeführt: „Wenn
wir Äthylalkohol nnd Essigsäure in dem Verhältnis zusammenbringen
, wie sie notwendig sind zur Bildung der
Verbindung Äthylazetat, so bildet sich durchaus nicht aus
der ganzen Masse beider Stoffe Äthylazetat, sondern es
bleibt immer noch etwas Alkohol und Essigsäure übrig.
Es stellt sich ein bestimmter Gleichgewichtszustand der
Mengen von Äthylazetat, Alkohol und Essigsäure her.
Stören wir aber diesesr Gleichgewicht der Massen, indem
wir z. B. etwas Äthylazetat herausnehmen, so verbindet sich
dementsprechend wieder etwas Alkohol und Essigsäure
miteinander zu Äthylazetat, bis das ursprüngliche Massenverhältnis
, wie es früher bestand, von neuem wieder hergestellt
ist. So verhält es sich auch mit der lebendigen
Substanz. Es wird das, was durch die dissimilatorische
Erregung infolge der Reizung verloren gegangen ist, mit
Hilfe der Stoffe des Blutes und der Lymphe wieder ersetzt."
Hierzu erlaube ich mir nun zu bemerken: es ist selbst-
\ erständlich, daß die verbrauchten Stoffe im Gehirn durch
neue chemische Verbindungen wieder ersetzt und ausgeglichen
werden müssen, und so mag denn diese Theorie
hierfür ihre volle Berechtigung haben, nicht aber auch zu
gleicher Zeit für die geistige Tätigkeit. — Wie soll man
sich z. B. das Merken von Sinneseindrücken nach dieser
Theorie vorstellen? Die dissimilatorischen Erregungen im
Nervenfaden verlaufen in ähnlicher Weise, wie das Abbrennen
einer Zündschnur; was aber dann, wenn die Erregung zur
liuhe gekommen ist? Wo bleibt der Eindruck und wie
kann er sich wieder reproduzieren, wie erklärt sich die
Unterschiedlichkeit der Eindrücke, wie z. B. bei Bildern?
— Prof. Verworn umgeht die Beantwortung dieser Fragen
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