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228 Psychische Studien. XXXVIII. Jahrg. 4. Heft. (April 1911.)
sie aus Furcht vor den Folgen, welche es für ihn selbst
haben konnte, seine Einladung abgewiesen, zuletzt willigten
sie indeß doch ein. Demnach legte sich der Oberst in ihrer
Gegenwart auf den Rücken; Dr. Cheyne tibernahm es,
seinen Puls zu beobachten; Dr. Baynard untersuchte sein
Herz und Shrine hielt einen Spiegel vor seinen Mund.
Nach wenigen Sekunden war Atem, Puls und Herztätigkeit
nicht mehr zu beobachten; sämtliche Zeugen überzeugten
sich vom gänzlichen Aufhören dieser Funktionen. Als der
Todesschlaf oder Traumtod eine halbe Stunde gewährt
hatte, fürchteten die Ärzte, ihr Patient habe das Experiment
zu weit getrieben und sei wirklich tot; sie schickten sich
gerade an, das Haus zu verlassen, als eine leise Bewegung
des Körpers ihre ganze Aufmerksamkeit von neuem fesselte.
Sie nahmen ihre Beobachtungen wieder auf, Puls und fühlbare
Bewegung des Herzens kehrten zurück, allmählich
auch die Atembewegungen und das Bewußtsein. Nachdem
der Oberst wieder ganz zu sich gekommen war, ließ er
seinen Anwalt holen, machte sein Testament und — starb
sechs Stunden später.
Es ließen sich von Todesekstase leicht zahlreiche
wohlverbürgte und ganz romanhaft klingende Beispiele
erzählen. — Der Leser könnte leicht auf den Gedanken
geraten, daß alle diese Erzählungen aus früheren
Zeiten stammen, und daß jetzt die Ärzte vorsichtig genug
sind, bezw. daß das Publikum hinlänglich auf seiner Hut
ist, um ein Lebendigbegrabenwerden zu verhüten. Ich
gestehe auch zu, daß — in England — mit Ausnahme der
ärmsten Klassen, diese Gefahr in der Wirklichkeit von nur
geringem Belange ist. Daß sie aber dennoch und zwar für
alle Klassen der Gesellschaft existiert, daß zumal für den
Armen die Gefahr bedeutend und sehr ernsthaft ist, zu
dieser Überzeugung ist leider nur zu viel Grund vorhanden.
— Mancher läßt sich nicht träumen, wie barbarisch und
wie weit zurück dermaleinst der Nachwelt das so gepriesene
neunzehnte Jahrhundert [gilt auch noch fürs zwanzigste!]
in dieser Beziehung erscheinen wird. Allein die Gesellschaft
ist der Mit- und Nachwelt auch noch für eine andere
Gefahr verantwortlich, welche dadurch entsteht, daß sie
viel zu wenig das Vorkommen von Traumtod oder Todesekstase
beachtet, und diese Gefahr erscheint mir dringender
und drohender zu sein, als selbst die des Lebendigbegraben-
werdens.
Die Gefahr, welche ich im Sinne habe, ist nicht der
Art, wie die aus dem folgenden Beispiele hervorleuchtende.
Der Kardinal Espinosa, Premierminister unter Philipp IL
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