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230 Psychische Studien. XXXVIII. Jahrg. 4. Heft. (April 1911.
Blut fließen; die Augen können glasartig geworden, es
kann partielle Mortifikation vorhanden sein, infolge
deren ein Totengeruch entsteht: — und gleichwohl kann
der Körper doch noch leben! Die einzige Sicherheit
, daß das Leben einen Körper wirklich und gänzlich
verlassen hat, vermag uns nach dem jetzigen Stande
unserer Kenntnisse nur das Eintreten einer chemischen
Zersetzung zu gewähren, welche sich in einer
beginnenden Veränderung der Farbe der Decken des
Unterleibes und der vorderen Seite des Halses in Blau
und Grün, und durch einen gleichzeitigen kadaverösen
Geruch zeigt. —
Kehren wir jedoch nun von dieser wichtigen Abschweifung
zu dem ursprünglichen Gegenstande unserer
Betrachtung, zu dem Vampyr-Ab erglauben zurück. —
Das zweite Element desselben, welches wir zu erklären
haben, ist der Besuch des Vampyrs und seine Folgen:
das Versinken der besuchten Individuen in Todesekstase
oder Traumtod. Wir haben zwei Mittel, den Knoten zu
lösen, wir müssen ihn entweder zerschneiden oder ihn entwirren
, ihn aufknüpfen.
Zerschneiden wir ihn denn, und zwar, indem wir den
angeblichen Zusammenhang zwischen dem Besuche des
Vampyrs und dem Eintritte des Traumtodes bei dein
Besuchten ganz in Abrede stellen. Auch ist die Erklärung,
welche wir auf diese Weise erhalten, durchaus nicht unplausibel.
Wir können keinen Grund angeben, warum die Todesekstase
nicht zu gewissen Zeiten und an gewissen Ortliehkeiten
epidemisch sein könnte. Dann werden Individuen von
schwachem und reizbarem Nervensysteme solchen Zufällen
am meisten ausgesetzt sein. Ferner kann die erste Wirkung
der Epidemie Störungen im Nervensysteme schwächlicher
Individuen hervorbringen, und gerade solche Menschen
werden leicht von imaginären Schrecknissen angesteckt,
und träumen oder bilden sich sogar fest ein, daß sie den
und den, die jüngsten Opfer der Epidemie, gesehen hätten.
Der Traum oder der durch die Einbildungskraft vermittelte
Eindruck auf die Sinne kann sich wiederholen, der dahinsiechende
Patient kann darüber mit seinen Nachbarn sprechen,
bevor er selbst vom Traumtode ergriffen wurde. Bei dieser
Voraussetzung sinkt der Vampyrbesuch zu dem untergeordneten
Range eines rein vorerinnerten, warnenden
Symptoms herab.
Mir selbst — ich muß es aufrichtig gestehen — kommt
diese Erklärung, obwohl die beste, welche ich zu geben
vermag, dürftig und nüchtern vor und scheint mir keines-
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