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254 Psychische Studien. XXXVIII. Jahrg. 4. Heft. (April 1911.)
über die obigen skeptischen Bedenken. Er hatte die Güte,
unserem Wunsche mit nachfolgenden Bemerkungen zu entsprechen
:
„1) Ich stimme dem Urteile des Herrn Dr. Dessauer
bei, nachdem ich zwei Vorstellungen, einer abgesonderten
vor Ärzten und Presse und einer öffentlichen, beiwohnte.
2) Der Unterschied vom Muskellesen ist auch, wo
Bellini, die H e r r e n am Handgelenk fassend, sie hinter
sich meist ungestüm mit sich fortreißt, klar. Es handelt
sich ja nicht, wie bei den Muskellesern, bloß um das Auffinden
von Dingen oder einer Person, sondern sodann um
Ausführung umständlicher, oft verwickeltster Aufträge, die
nur gedacht und zur Kontrolle niedergeschrieben, in geschlossenen
Umschlägen bewahrt oder einem Zeugen anvertraut
waren. Wenn z. ß. Bellini eine Tasche wegzunehmen
, aus ihr hohe Münzen in bestimmter Zahl
hervorzuholen und darauf in allerhand kleinere Münzen,
die er wieder aus einer anderen Tasche ziehen mußte, in
vorgeschriebener Anordnung zu wechseln hatte, und bei
einer Menge ebenso schwieriger Aufgaben hilft kein
Muskellesen, keine Hypersensibilität. Gesprochen
wurde von Auftraggebern fast nie, so daß irgendwelche
Zeichen durch Sprache, Wortstellung, Betonung unmöglich
gegeben wurden, abgesehen davon, daß lauter
beliebige, oft wohlbekannte Personen des Publikums die
Aufgaben stellten.
3) Die Damen gingen sämtlich unberührt und
ungesehen hinter ihm. Das war etwa die Hälfte
der Fälle in der ersten Vorstellung. Daß Kleiderrauscheiir
Atmen, Herzschläge, hinterrücks erlauscht, wenn sie wirklich
zum Auffinden einer Person dienen könnten, die langen
zu vollziehenden Aufgaben verraten sollten, ist Widersinn.
Das ist eine Klugheit, die sich selber überschlägt. Dann
wäre die Erklärung mit Hansen's unbewußtem Geflüster,,
die auch für Prof. Lehmann alles gilt, in ihrer Allgemeinheit
doch von Dr. Kotik gründlichst widerlegt ward, immer
noch weniger geschraubt. Fixierung Bellings durch den Blick
fand kaum jemals statt, auch wenn er die Personen sah.
4) Es handelt sich bei Bellini mehr noch um Uber-
tragung von anschaulichen Vo rstellungen, als
von Gedanken. Dachte jemand das Wort „Tasche", anstatt
Bellini in Gedanken auf die bestimmte Tasche der
dritten Person hinzuieiten, so mißlang das Experiment.
Das leichtere Gelingen bei Damen ist wohl nur dadurch
erklärlich, daß Damen die angeschaute Wirklichkeit näher
liegt, als dem Manne.
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