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256 Psychische Studien. XXXVIII. Jahrg. 4. Heft. (April, AML)
Zustand für Augenblicke erträglich machen. Es entwickelt
sich da Quacksalberei, ohne Ende und ohne wirkliehen
Nutzen, auf fast jedem Gebiete, und das Wirrsal fordert
immer mehr der Opfer.
Haben diese Rattenkönige von Übeln und Leiden
irgend welchen vernünftigen, religiösen, moralischen, pädagogischen
, hygieinischen Zweck ? Es wurde zwar behauptet,
dieselben reinigten, erzögen, läuterten die Seele; doch, dem
ist wohl nur nebenbei der Fall: es bestehen Mittel, welche
diese Arbeit gründlieh besorgen, ohne die Seele zu peinigen
und den Körper zu verwüsten. Die Rede, daß Gott Übel
und Leiden schicke, um die Wesen zu prüfen, ist die meist
betrügerische Rede und beweist, daß deren Betätiger entweder
von Gott, dem absoluten, die erbärmlichste Vorstellung
sich machen, oder an denselben garnicht glauben.
"Wer nicht von Haus aus edel geartet ist, wird durch Übel
und Leiden mehr verbittert, als beruhigt, geschweige denn
veredelt; und der, dem Noblesse angeboren, pflegt letztere
durch Übel und Leiden nicht zu verlieren.
Nicht Gott also ist der Beschaffer von Übeln und
Leiden, sondern der Mensch ist es für seine Gattung und,
trauriger Weise, auch für viele andere Gattungen von
Geschöpfen. Durch Mißbrauch der mit ihm zur Welt gekommenen
Freiheit machte er den Trieb seiner Selbsterhaltung
zu Selbstsucht entarten; diese brütete den Verstand
zu berechnendem Ungeheuer aus, schob Vernunft in
den Hintergrund, und schwächte, ja unterdrückte die angeborenen
sympathischen und religiösen Gefühle. Damit
kam Disharmonie in die Seele und diese artete abnorm,
systematisierte Egoismus und legte dessen verruchtes System
dem ganzen Sein und Tätigsein unter. Durch solchen
Akt von Blödsinn, Wahnsinn, also Krankheit, Ausartung,
entstand die gemeinsame Quelle nahezu aller persönlichen
und gesellschaftlichen Übel und Leiden, welche aus dem
naturwidrig gesitteten Menschen ein Ungeheuer formen.
In keinem Falle wird Selbstsucht mit echt sympathischen
und religiösen Gefühlen sich paaren, sondern selbe als
Hemmnisse jeder Zeit empfinden. Je mehr also Egoismus
und der damit verbundene Materialismus in den Vordergrund
treten, desto mehr weichen sympathische und religiöse
Gefühle in den Hintergrund. Dies bedingt Erhöhuug
und Vermehrung aller Übel und Leiden, damit Zunahme,
Verschlechterung sämtlicher individueller und sozialer Zustände
.
Persönliche Übel und Leiden verursachen soziale Übel
und Leiden, sowie diese wieder jene fördern. Bei schlechtem
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