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Reich: Ueber die Quelle der gesellschaftlichen Uebel. 257
Zustand der allgemeinen Sittlichkeit erhöht sich der Wasserspiegel
wohl sämtlicher Krankheiten und die Sterblichkeit
nimmt zu. Bei schlechtem Zustand der allgemeinen Gesundheit
sinkt das Barometer der Sittlichkeit und seelische
Leiden wie mannigfaltige Übel wachsen an. Weil die
Gesellschaft aus Einzelwesen sich zusammensetzt, ist deren
physische und moralische Verfassung die .Resultante der
physischen und moralischen Verfassung aller Individuen.
Es entspringen also Übel und Leiden aus abnormem Einfluß
der Staatsgesellschaft mit allen ihren Einrichtungen
und Einsetzungen auf die einzelnen Persönlichkeiten. Sind
letztere egoistisch und materialistisch, so ist dies auch der
ganze Geist der Gesellschaft und des Staates, und alles ist
nach demselben Muster zugeschnitten.
Staatsgesellschaftliche Einrichtungen entscheiden über
Geistes-, Gemüts- und Willens Verfassung der Individuen,
über deren leibliche Gesundheit, Lebensdauer und Gesittung.
Gründen dieselben sich auf Egoismus, so kommen schlechte
Zustände zutage; gründen sie sich auf Altruismus, ist das
Gegenteil der Fall. Die egoistisch-materialistische Staatsgesellschaft
ist die beste Pflanzschule der Unholde, Lasterknechte
und Verbrecher, weil Betätigung ihrer Grundprinzipien
die bösen Keime züchtet, die guten unterdrückt.
Züchtung böser Keim« bedeutet Pflege aller physischen
und moralischen Abnormitäten, demnach leiblicher und
seelischer Übel, persönlicher und sozialer Leiden. Züchtimg
guter Keime aber bedeutet Erwirkung und Erhaltung
physischer und moralischer Gesundheit, persönlicher und
gesellschaftlicher Wohlfahrt.
Wenn nicht fremde Eroberer die Regierung eines
Landes an sich reißen, sondern selbe allmählich aus der Bevölkerung
empor wächst, so ist ihr Geist nicht verschieden
von des Volkes Seele und spiegelt die Zustände der letzteren
ebenso wieder, wie jeder Einzelne in seiner leiblichen und
seelischen Verfassung als Glied der betreffenden Staatsgesellschaft
sich erweist und spontan die Impulse seiner
Regierung zum Ausdruck bringt. Welche Form sodann
die Staatsgesellschaft immerhin haben möge, der Einfluß
derselben auf die Iudividuen bleibt mächtig unter allen
Umständen. Für eine solche Regierung ist es nicht schwer,
die Bevölkerung leiblich und sittlich zu höheren Stufen
der Entwicklung empor zu heben und alles so einzurichten,
daß die gemeinsame Quelle der persönlichen und gesellschaftlichen
Übel und Leiden aufhöre, zu fließen.
Mit fremden Eroberern gestaltet das Verhältnis sich
anders und nicht jeder Zeit günstig; denn Raub eines
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