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284 Psychische Studien. XXXVIII. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1911.)
Gedankenleser in München.
Die Debatte über dieses schon im vorigen Heft,
S. 246 ff. erörterte aktuelle Thema wurde in den „Münchner
Neuesten Nachrichten" fortgesetzt. Zunächst schrieb
Dr. A. D. (offenbar: Dessauer) im Morgenblatt vom
28. März er., Nr. 147 unter der Spitzmarke:
14 Tage später starb. Die Mutter des Kindes lag noch im Bette,
ihr Kind in einem Bettchen daneben schlief ruhig, die Mutter fühlte
sich wohl und glücklich. Da öffnete sich die verschlossene Thüre
und es trat eine Frauengestalt in tiefer Trauerkleidung mit unendlich
kummervollem Gesicht in das von der Lampe erhellte Gemach,
schritt auf das Kind zu, beugte sich über dasselbe, worauf die
Mutter mit furchtbarem Grauen ihre im Bette nebenan schlafende
Tante mit den Worten wachschüttelte: „„Man nimmt mir mein
Kind?"" Wieder umblickend sah sie die Gestalt nicht mehr. Die
Frauen, aufspringend, fanden die Thüre verriegelt, das Kind schlief
ruhig. Etwa 14 Tage später bekam dieses Krämpfe, der Arzt aus
der Stadt konnte erst in 4 Stunden herbeigeführt sein; die Tante
schickte unterdeß zu der etwa eine Viertel Stunde entfernten
Förstersfrau, die das Unglück gehabt hatte, alle ihre Kinder in
zartem Alter zu verlieren; man hoffte von ihrer Erfahrung einigen
Rath. Die Frau kommt, tritt durch die Corridorthüre in das Zimmer
und es ist dieselbe, welche die Mutter in jener Nacht erblickt
hatte: Zug für Zug, das gramvolle Antlitz, die hagere Gestalt, die
tiefe Trauerkleidung, und sie schritt wie damals auf das Bettchen
des l'fe Jahr alten Mädchens zu, das zwei Stunden später in ihren
Armen starb. Daumer deutet diesen merkwürdigen Fall richtig so,
daß die Förstersfrau, in tiefem Schlafe liegend, geistig die Scene
prophetisch vorausgeschaut, ich sage vorausgespielt hatte, von der
im wachen Leben kein Mensch damals etwas ahnen konnte. Auch
mir ist dieses wahrscheinlicher, als daß die Mutter des Kindes die
Scene in der Vision vorausgeschaut, denn sie war nach ihrer getreuen
Erzählung eben tagwach." — Aehnliche vorbedeutende Erscheinungen
sind die von mir schon einmal bei einer anderen Gelegenheit
erwähnten sogenannten Figurierungen in Just.
Kerner's „Eine Erscheinung aus dem Nachtgebiete der Natur", die
auch darin mit den Erscheinungen des „zweiten Gesichtes" übereinstimmen
, daß sie, wie diese zum Teil symbolischer Natur sind,
weshalb sie schon Dr. Kerner damit in Beziehung brachte (S. 42
—47). Bei diesen Figurierungen wurden Personen, welche später
das Gefängnis der Eßlinger betraten, einige Zeit vorher mehr oder
weniger materiell nicht nur vollkommen lebenswahr dargestellt,
sondern es wurde auch wiederholt durch Schwarzwerden einer
solchen Erscheinung ein der betreffenden Person jedesmal bevorstehender
Trauerfall auf symbolische Weise prophetisch angedeutet.
— Von wahrer Intelligenz und Genialität dürften die Phänomene
des „zweiten Gesichtes" kaum jemals ernstlich bezweifelt worden
sein, dagegen werden sie von einer seichten Aufklärung noch
immer als grasser Volksaberglaube betrachtet. Würde in der
Wissenschaft, wie man stets glauben machen will, in der Tat der
ruhige besonnene Geist der freien Forschung walten und nicht ein
wilder Glaubensfanatismus herrschen, so wäre ihr Verhalten unbekannten
und unerklärlichen Erscheinungen gegenüber stets ein
anderes gewesen und hätten vor allem jene gewichtigen Stimmen,
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