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Reich: Ueber die Quelle der gesellschaftlichen Uebel. 301
Ringen mit den Gewalten der Natur eher heilsam, als un-
imheilsani, wenn man Egoismus ausschaltete aus dem System
des Lebens und Wirkens, und religiöse, sympathische
Gefühle einschaltete, denselben volle, freie Wirksamkeit
sicherte, Selbstsucht auf den normalen Trieb der Selbsterhaltung
zurückleitete, und letzteren mit Altruismus in
Harmonie brächte. Damit wäre die große gemeinsame
Quelle fast aller Übel und Leiden ausgetrocknet; zunächst
wären die Hauptursachen der physischen und moralischen
Krankheiten sicherlich gebannt.
In der auf Egoismus gegründeten Staatsgesellschaft
macht jedes größere Ringen um Leben und Habseligkeiten
krank, weil es Disharmonie und Überanstrengung bewerkstelligt
, die Organe frühzeitig und einseitig abnutzt, die
seelischen Energien erschöpft, mit Schädlichkeiten und
Giften die Organisation belastet, und zu Hantierungen
nötigt, welche der Natur des Individuums physisch und
moralisch entgegen sind. Zahlreiche Volkskrankheiten
werden mittelbar durch verhängnisvollen Einfluß der
Nationalökonomie, Jurisprudenz und Sozialpolitik des
Egoismus zum Leben gerufen und vernichten die Wohlfahrt
, insbesondere der armen und gedrückten Klassen.
Mangel an Geld bedeutet innerhalb der auf dem Grunde
von Selbstsucht erbauten Staatsgesellschaft Überhäufung
mit Krankheit und den mannigfaltigsten Übeln und Leiden.
Wenn die Arbeit riesenhaft und Geld knapp ist, treten
Zustände entsetzlicher Art ein, und alle Momente, welche
Hungersnot, Krankheit und Verbrechen erzeugen, finden
besten Boden üppigen Gedeihens. Volkskrankheit haust
ohne Rücksicht und reißt Tausende der besten Mitglieder
der Gesellschaft in des Todes Schlund. Solches verursacht
nicht allein moralischen, sondern auch materiellen Schaden,
verbreitet Siechtum und treibt halbe Legionen in den Abgrund
schwarzen Elends.
Mit alledem werden die sozialen Gegensätze von arm
und elend, reich und üppig fortschreitend schärfer, und an
beiden Polen der Säule entwickeln sich mehr oder minder
gefährliche, materielle und moralische, persönliche und gesellschaftliche
Zustände, überall werden die Normen der
Natur gebrochen, der Fruchtboden der Entwicklung verdorben
, sodaß schlechte Anlagen und Eigenschaften blühen
und wuchern, vorzügliche aber erlöschen und verderben.
Man läßt sodann die Staatsbewohner defilieren und bemerkt,
daß mehr als neunzig Prozent derselben in sämtlichen
Farben der Ausartung schillern und nach allen Pfühlen
der Sünde und des Lasters stinken. Die wenigen Prozente
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