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338 Psychische Studien. XXXVIIL Jahrg. 6. Heft. (Juni 1911.)
Am 19. Juli saß Helene Smith im Speisezimmer — es
war 9 Uhr abends —, sinnend und träumend. Sie hörte
drei Sehläge, welche ihre Aufmerksamkeit erweckten. Vielleicht
an der Türe ? Nein, es folgen Schläge, die aus dem
Zimmer kommen, in dem das Gemälde steht. Sie geht hin
und sieht auf demselben zwei leuchtende, phosphoreszierende
Augen. Sie betrachtet mit Staunen dieses Schauspiel
, das nach wenigen Minuten verschwindet. Am nächsten
Morgen beginnen die Sitzungen wieder, um die
Personen zu malen. Am 30. August wurde die Arbeit mit
dem Malen der Sandalen an den Füßen Christi beendet.
„Wir hatten Gelegenheit — so wird der „Suisse" berichtet
—, bei Helene Smith zu jenem Zeitpunkt einzutreffen,
in welchem sie, nachdem die Landschaft fertig gemalt und
trocken ist, die zwei Augen malt. So beginnt das Medium
stets die Malerei der Personen: der Effekt ist außerordentlich
merkwürdig und ergreifend. Diese Augen befinden
sich, ohne daß eine Zeichnung oder Skizze usw. vorhanden
wäre, genau an ihrem richtigen Platze. Es grenzt ans
Wunderbare.
Für jene, welche die früheren Bilder des Mediums
kennen, hat das letzte Gemälde eine Überraschung gebracht
: Christus ist bartlos. Wie kommt dies? Ist dieser
Bart abgenommen worden vor der Grablegung? Alle
Evangelien erzählen, daß die Schüler Christus nicht wiedei -
erkannten! Wäre vielleicht dies der Grund? Es ist nicht
unmöglich. —
Bei der oben erwähnten dritten Vision, welche den
Sitzungen vorherging, hörte Helene Smith die Stimme
sagen, daß das Gemälde »Jesus auf dem Gange nach
Emmaus* vorstellen würde. Christus steht aufrecht im
kurzen Kleid des Wanderers, das mit einem Gürtel zusammengehalten
wird. Er trägt dieselben braun gelockten
Haare, wie auf den anderen Bildern; der Ausdruck ist
ideal und unendlich sanft. Die erhobene Hand zeigt die
Spur der durchgetriebenen Nägel. Auch die Füße tragen
das Stigma. Rechts in der Ecke des Bildes kauert der
heilige Lukas; er hat wunderbaren jüdischen Typus mit
gekräuseltem Bart und kastanienbraunem Haar. Die linke
Hand ist erhoben und von vollendeter Modellierung. Was
vor allem die Künstler staunen macht, das ist die absolut
genaue Anatomie der Hände, Arme und Füße, die Transparenz
des Fleisches auf den Adern und die stets richtige
Zeichnung."
Das Bild zeigt den Schüler, der endlich freudestrahlend
den Meister erkennt. Die Geste scheint zu sagen: „Ja,
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