http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1911/0350
346 Psychische Studien. XXXVIII. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1911.)
esse verfolgt hat. Hat doch schon der berühmte Pariser Zoologe
und Physiologe C1 a u d e Bernard (1813—1878) einmal
geäußert: „II doit exister un dessin invisible, sur lequel
se tracent les organes du corps humain.« Zu dieser wichtigen
Erkenntnis waren nun — offenbar auf dem Wege der
Intuition — schon die ägyptischen Priester in ihrer esoterischen
Geheimlehre gelangt. Wir entlehnen die nachfolgenden
Ausführungen einem eigenhändigen Bericht des
Herrn Prof. Noack in der „Tübinger Chroniktt (Nr. 62 u.
65 vom 15. und 18. März er.). Der hochgeschätzte Gelehrte
sagt dort:
1. „Wenige, aber ausgezeichnete Denkmäler, ein jedes
mustergiltig in seiner Art, sind in unserem ägyptischen
Kabinett vereinigt. Das Glanzstück ist die Opferkammer
aus dem Grabe des Seschem Nufer. Sie gehört in die Zeit
des alten Reiches, der ersten großen, ja wohl größten
Maehtperiode Ägyptens unter der vierten und fünften
Dynastie (2840—2540 v. Chr.). Niemals wieder war die
Herrschaft der Pharaonen so einheitlich straff konzentriert
und unwidersprochen, vom Delta bis hinauf zum 2. Katarakt
, und die ägyptische Kunst hat ihre eigenartige, für alle
spätere Zeit grundlegende Entfaltung auch damals schon
erlebt.
Könige der vierten Dynastie waren jene Cheops, Chefren
und Mykerinos, die zu Gise am Rand der Wüste sich
ihre gigantischen Grabmäler, die großen Pyramiden, „Bauten
der Ewigkeit", errichteten. Zu jeder Pyramide, die ja nur
die Sargkammer des Königs barg, gehörte, ostwärts neben
ihr gelegen, der Totentempel für den dauernden Kult deb
toten Herrschers, und als dritter Teil ein monumentaler
Torbau im Tale, den ein schmaler, abgedeckter Gang mit
dem höher, schon auf dem Wüstenplateau gelegenen Totentempel
verband. Die Gruppenanlage, die erst in neuester
Zeit an den Königlichen Mausoleen der fünften Dynastie
bei Abusir, zwei Stunden südlich von Gise, durch die von
Prot Borchardt geleiteten deutschen Ausgrabungen festgestellt
worden war, hat die vorletzte deutsche Sieglin-
Expedition unter Leitung von Prof. Steindorff (Leipzig)
1909 auch für die mittlere der Gise - Pyramiden, die des
Chefren, nachgewiesen. Unmittelbar neben dieser Pyramide
wurde die Ruine des Totentempels freigelegt, und der berühmte
Granittempel neben der großen Sphinx erwies
sich, wie schon Borchardt vermutet hatte, als der zugehörige
Torbau.
Die Einheit der damaligen Reichsmacht kann sich aber
kaum stärker ausdrücken als dadurch, daß die Großen des
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1911/0350