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v. Schnehen: Naturwissenschaft, Seelenlehre und Metaphysik. 359
psychischer Natur (S. 23). Und „ erfahren* im eigentlichen,
wissenschaftlichen Sinne des Wortes besagt nichts anderes
als das unmittelbare Erleben eines Bewußtseinsinhaltes
(S. 14).
Daß diese grundlegende Erkenntnis von der Subjektivität
aller unserer Erfahrung trotz ihrer Selbstverständlichkeit
(S. 18) noch so viel Widerstand findet, hat seinen
Grund wohl darin, daß man sie mißversteht oder falsche
Schlüsse aus ihr zieht (S. 23; 41). Wenn die ganze Welt
mir nur als meine Vorstellung gegeben ist, dann — so
meint man wohl — sei sie doch von meiner Willkür abhängig
, sei eine bloße Schöpfung meines eigenen Geistes und
müsse sich deshalb wohl gar ganz oder teilweise a priori
konstruieren lassen (S. 23; 41). Aber das sind doch sehr
übereilte Folgerungen (S. 23). Was subjektiv ist, ist darum
noch nicht allein vom Subjekt abhängig (S. 145). Und tatsächlich
kann ich ja immer nur einen Teil meiner Bewußtseinsinhalte
nach Belieben selbst hervorrufen und ebenso
wieder entfernen. Die anderen dagegen stellen sich ganz
ohne mein Zutun, ja selbst gegen meinen Willen ein und
verschwinden in derselben Weise (S. 35; 37; 128). Und in
diesem Dualismus, also in dem Gegensatze von freien Erzeugnissen
der Phantasie und von gegebenen Tatsachen
wurzelt die Möglichkeit *und das Wesen der Erkenntnis
(S. 35). Ja, an ihn knüpft unbewußt schon die natürliche
Welterklärung an, wenn sie dem Ich eine selbständige
Außenwelt gegenüberstellt (S. 35; 128—129). Und an ihn
muß, obschon in anderer, mehr kritischer Weise auch die
Wissenschaft anknüpfen. Ja, auf ihn gründet sich auch die
Einteilung aller Wissenschaften in reale und formale.
Denn in den formalen Wissenschaften (Logik und Mathematik
) haben wir es eben mit jenen freien Schöpfungen
unseres Geistes zu tun: wir stellen gewisse allgemeine Annahmen
oder Definitionen voran und entwickeln daraus
dann die besonderen Gesetze. In den realen Wissenschaften
(den Geschichts- und Naturwissenschaften) dagegen
gehen wir von den gegebenen Tatsachen aus und suchen
deren gesetzmäßige Zusammenhänge zu ermitteln (S. 60;
64; 73). In beiden Fällen aber halten wir uns auf dem
Boden des Bewußtseins.
Die Naturwissenschaft hat es also nicht mit
der Erforschung einer außerbewußten, an sich daseienden
Materie, sondern nur mit unseren eigenen Empfindungen
zu tun: das ist eine Erkenntnis, die sich dank dem Einflüsse
Ernst Mach's heute immer mehr Bahn bricht (S. 41).
Was wir „physisch* nennen, ist eine Konstruktion aus
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