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Stern: Anzeigen Sterbender vor ihrem Tode. 499*
D—h schlug sich diesen Vorfall aus dem Sinn, weil er
ihn für nichts anderes als ein Spiel des Zufalls halten
konnte. Es waren schon etliche Wochen vergangen. D—h
dachte schon längst nicht mehr an den Vorfall, als ihm
einer seiner Freunde, der Kaufmann K—z, auf der Straße
sagte, er habe vom Schwager des Predigers F-—r einen
Brief erhalten, worin er ihm den Tod dieses melde. D —h
fragte ihn nach der Zeit und nach einzelnen Umständen
desselben. Er begleitete seinen Freund nach Hause, um
den Brief selbst zu lesen. Zu seinem großen Erstaunen
erfuhr er daraus, daß sein Freund F—r gerade an dem
Tage und just in derselben Viertelstunde gestorben sei, als
es an seine Türe so hastig klopfte und diese aufriß. Er
erfuhr auch, daß F—r seinen Schwager noch in der Sterbestunde
gebeten habe, seinen Tod den beiden Freunden
D—h und K—z in Leipzig zu melden. —
Ein Herr, der die Gewohnheit hatte, nicht sogleich
aufzustehen, wenn er erwachte, sondern noch einige Zeit im
Bette liegen zu bleiben, hörte sich hier eines Tags in völlig
wachem Zustand mehrmals bei seinem .Namen nennen. Er
stand auf und sah nach, wer der Rufer sei; denn die
Stimme schien ihm bekannt zu sein. Als er sich lange
vergebliche Mühe gegeben und nichts ausfindig gemacht
hatte, ging er in sein Schlafzimmer zurück und legte sich
nochmals zu Bett, weil es ihm zum Aufstehen noch zu
früh dünkte. Kaum aber hatte er einige Minuten, ohne zu
schlummern, im Bette zugebracht, als er sich nochmals bei
seinem Namen rufen hörte. Da er glaubte, daß das, was
er höre, Täuschung sei, wie es manchmal der Fall ist, daß
man etwas zu hören glaubt, ob sich gleich weder ein Geräusch
, noch eine Stimme vernehmen läßt, so stand er nicht
wieder auf. Endlich ließ auch das Rufen nach. — Es vergingen
mehrere Tage. An dem Posttage, da er gewöhnlich
Briefe von zu Hause erhielt, kam ein schwarzer gesiegelter
Brief an. Hastig öffnete er ihn und fand in
demselben die traurige Nachricht, daß sein Vater gestorben
sei. Der Tag und die Stunde des Todes waren im Briefe
bestimmt angegeben. Zu seiner Traurigkeit gesellte sich
noch der Schrecken, als er vernahm, daß sein Vater gerade
in der Stunde verschieden sei, da er neulich die Stimme
gehört, welche ihn bei seinem Namen gerufen hatte. —
Das Wunderbare solcher Tatsachen und Erzählungen
kann nur dadurch vernichtet werden, daß man zeigt, daß
hier die Ursache und die Wirkung in keiner Beziehung zu
einander stehen, oder daß alles Täuschung der Sinne sei.
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