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Schwanse: Die Entwickelungstadien der Intelligenz. 555
soll für das ganze Leben als Wegweiser in den Gefahren
des Lebens genügen und das Vertrauen auf Gerechtigkeit
nie erschüttern.
In der Religionsglaubenslehre liegt das Prinzip der
Gerechtigkeit; wie weit diese in den Gesetzen der Natur,
der gegenseitigen Gedankenbeziehungen erkannt sind und
dieser Erkenntnis entsprechend gelehrt werden, hängt von
dem durch den Willen gepflegten Streben nach Recht und
Wahrheit oder Lüge und Betrug ab. Die Religionsglaubenslehre
verheißt für alle guten Gedanken, Worte und
Werke die Belohnung der Glückseligkeit, den Himmel, für
alle schlechten Willensäußerungen hingegen die Strafe der
Verdammnis, die Hölle. Beide Begriffe von Lohn oder
Strafe, die Vergeltung für entsprechende Denk- oder
Handlungsweise sind dem Menschen überlassen, sich unter
den verschiedensten Gesichtspunkten des Denkprozesses vorzustellen
. Für die gering entwickelte Intelligenz der breiten
Volksmasse bleibt dieser blinde Glauben fürs ganze Leben
als Wegweiser, so lange er nicht durch tiefere Aufklärung
oder durch groben Mißbrauch des Vertrauens an die
Lehrkräfte gestört wird. Beeinflussungen von stark egosti-
Hchem Charakter und Unterdrückung der Vernunft- und
Intelligenzentwickelung zerstören auch diesen Glauben, da
die gesuchte Gerechtigkeit darin vermißt wird. Kann der
Mensch in seiner Intelligenz- oder Vernunftentwickelungs-
stufe seines Ichs den ihm als Wegweiser gelehrten Glauben
nicht mehr als gerecht und wahr anerkennen, so tritt er in
den Glauben der Freidenker. Der Geist ist auf dem Wege
zur tieferen Erkenntnis der Kräfte und Gesetze der Natur
soweit fortgeschritten, um sich über die verschiedensten
Energieäußerungen durch logische Vernunftbegründungen
aus sich selbst einen Glauben ausbilden zu können; die auf
ihn einwirkenden Suggestionen oder Glaubensbeeinflussungen
werden nicht* mehr im blinden Vertrauen glaubend
angenommen, sondern haben das in ihm leuchtende Licht
der reinen Vernunft zu passieren, um dann durch diese
Prüfung entweder im Glauben als wahr angenommen oder
als unwahr abgestoßen zu werden.
Der Kampf mit den egoististischen Glaubensbeeinflussungen
, welcher sich vor dem geistigen Auge des Gewissens
vollzieht, spricht vielmals einer in der Natur obwaltenden
Gerechtigkeit Hohn und verleitet den Menschen gar oft
zur Nichtachtung des in ihm als Wegweiser entscheidenden
Gewissens von Recht und Unrecht. Betritt der Mensch
einmal den Weg egoistischer Glaubensbeeinflussung, so
wird er auch darauf weitergetrieben, die ihm drohende
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