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606 Psych. Studien. XXXVIII. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1911.)
nähme, daß die Wirkung der Kraft sich an den Pflanzen
meist nur bis zur Entwicklung von vegetativem Leben, bei
den verschiedenstenTieren bis zu mehr oder weniger hoch ausgebildeten
Empfindungsfähigkeiten, am Menschen sogar bis
zu hohen geistigen und moralisch - aesthetischen Eigenschaften
habe steigern und betätigen können. Aber der
Tod selbst des einzelnen höchst begabten Memchen als
Individuum nach vom Zufall abhängiger, mehr oder weniger
langer Lebensdauer und das spätere Wiedersterben nach
seiner Geburt als Individuum und das Weiterdauern des
Menschengeschlechts als Gattung auf unserer Erde nur
durch Weiterzeugung durch Eltern bewiese, daß der einzelne
Mensch nicht ein unsterbliches Wesen sein könne,
das unergründliche Weisheit eines allmächtigen Gottes, wie
die „Religiösentt lehren wollen, zu hohen Endzwecken bestimmte
, sondern daß der Mensch einfach als das erstaunliche
Produkt einer wunderlichen Laune der Natur entstanden
sei, und daß er wohl nicht dazu bestimmt sei,
die Erde urbar und ertragbar für höhere Zwecke als die
eigenen selbstsüchtigen zu machen; denn es wäre ja niemand
da, kein Gott, keine höhere Macht, die ihn zu diesen
Zwecken bestimmte, da sich ja alles Geschehen, alles Entstehen
und Vergehen auf der Erde und im weiten Weltenraum
sehr wohl durch das unerbittliche Walten von Naturgesetzen
erklären ließe. Die Erwägung jedoch, daß er, der
Mensch nun einmal auf diese Erde in dieser Form und mit
diesen Eigenschaften auf eine so sonderbare Art gekommen
sei, ließe ihn in seinem eigenen Interesse klug handeln, die
Reichtümer, die die Erde biete, aufzusuchen, aus dem
Boden zu heben, um sich mit ihrer Hilfe für seine beschränkte
Lebenszeit recht angenehme Lebensverhältnisse
zu verschaffen. —
Auf solche anscheinend so sehr einleuchtende wissenschaftliche
Beweisführung für die Richtigkeit der Lebensführung
der heute schon recht groß gewordenen Menge
von „Intelligenteren" hin, die mit dem Pathos der T5ber-
zeugung den in religiösen Menschen noch wohnenden
Glauben an eine höhere Macht über uns mit allen Mitteln
der Intelligenz, aber meist auch einer ziemlich losen
Moral — denn eine menschlich ethische Lebensauffassung
läßt sich mit Religionslosigkeit kaum in Einklang bringen
— zu bekämpfen, ja völlig auszurotten sich bemühen,
wird sich doch so mancher Mensch, auch mancher auf
jede Art Hochgebildete, trotz der gegenteiligen Darstellung
der „Intelligenterentf, verzweifelt fragen: Warum bloß
leben wir denn nur mit einem so empfindsamen Herzen,
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