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Meißner: Das logische Bedürfnis in höh. Synthese zu vereinigen. 607
einem so für alles Gute, Schöne und Große, wozu auch
das Wahre gehört, begeisterten oder begeisterungsfähigen
Gemüt, einem so in jeder Hinsicht bildsamen Geist, wenn
wir zu nichts anderem da sein sollen, als um einmal für
eine verhältnismäßig kurze Zeit, nämlich für die Zeit unseres
Lebens, deren Länge vom bloßen, für die gewöhnlichen
(Sinne des Menschen sicher feststellbaren Schicksal oder Zufall
für uns abhängt, die Freiheit des bloßen Sinnengenusses
— denn welch ein anderer Genuß könnte bei solcher
Lebensauffassung wohl noch in Frage kommen? — und
zweitens am Schlüsse der Periode beim Sterben die volle
Gewißheit zu haben, in unserer ganzen Individualität im
Grabe ein Fraß für die Würmer bis in alle Ewigkeit zu
werden? Es ist doch, dazu braucht man kein Vertreter
der exakten Naturwissenschaften zu sein, eine allgemein bekannte
Naturtatsache, daß, wer einmal geboren wird, auch
einmal früher oder später wieder sterben muß, ob er ein
Mensch oder ein Tier ist. Was sollte also einem denkenden
und fühlenden Menschen sein ganzes Leben auf der Erde
für einen Wert haben, wenn es nichts Anderes bieten
könnte, als für eine geraume Zeit angenehm seinen Gaumen
zu letzen, seinen Bauch zu pflegen, seinen rohen Sinnenkitzel
zu befriedigen? Würfe er ein solches Leben, das
niemand geschaffen h#t als eine Willkür, nicht am zweckmäßigsten
freiwillig so schnell wie möglich wieder von sich,
weil er sich vor ihm ekeln müßte, zumal wenn sein eigener
materieller Wohlstand nur gleich durch den Untergang
vieler anderer menschlicher Existenzen, die neben ihm auch
leben müssen und wollen, und denen er, um recht genießen
und an der Erde Tafeln schweigen zu können, die bloße
Notdurft für ihr Leben entzieht, geschaffen oder weiter erhalten
werden kann; würde er also nicht lieber, sobald er
zu dieser Erkenntnis käme, wieder erd- und weltflüchtig,
als daß er noch seinem Geiste, der schon genug mit Arbeiten
und Sorgen belastet ist, die unaufhörlich drückenden
Lasten der Lösung eines solchen Problems, wie es das
„ Warumtt eines Lebens ohne moralischen und idealen Inhalt
ist, auferlegen sollte?
Diese eben mit dem Seziermesser der Betrachtung angeschnittene
Frage hat sicherlich nicht nur im allgemeinen
manchen guten, wenn auch nicht gerade sehr „religiösen"
Menschen, sondern auch den denkenden Geist manchen
Forschers und Gelehrten zu allen Zeiten beschäftigt und
sie sind, das sehen wir aus der Tatsache, daß das Menschengeschlecht
noch nicht ausgestorben ist, zu anderen Entschlüssen
gekommen, als dem einen, das Leben freiwillig
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