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620 Psych. Studien. XXXVIII. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1911.)
Unterschied seines Einzelwesens von der gesamten Außenwelt
empfindet der Mensch als Individualität; sie bildet
sein Ich, das schon bei Lebzeiten Veränderungen ausgesetzt
ist, im Gegensatz zum naiven Glauben einfacher Menschen,
welchen ihr Ich unverändert erscheint. Spricht also schon
die Entwicklung unseres Ich gegen dessen Unsterblichkeit,
so noch mehr die höchst bemerkenswerte Tatsache, daß körperliche
Krankheiten, soweit sie das Gehirn betreffen, das „Ich*
einfach zum Schwinden bringen können.*) Besonders interessant
sind in dieser Hinsicht auch die vielfach berichteten
Fälle vom doppelten Ich, bei denen ein und derselbe
Mensch periodisch seine Persönlichkeit vollkommen wechselt
. Uber einen hierher gehörigen Fall berichtete zum
Beispiel B^rillon in der Pariser „Gesellschaft für Hypno-
logie und Psychologie." Es handelt sich um eine Morphinistin,
die, je nachdem, ob sie unter dem Einflüsse des Giftes stand
oder nicht, eine grundverschiedene Wesensart zeigt Bis
zu ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahr war sie sinnlichleidenschaftlich
, verschwenderisch und überhaupt leichtsinnig
, das Gefühlsleben überwog bei weitem gegenüber
dem Vernunftleben. Mit 23 Jahren ergab sie sich dem
Morphiumgenuß, und alsbald wurde sie eine völlig andere.
Die Intelligenz wuchs auf Kosten des Gefühlslebens, sie
wurde nachdenklich und berechnend. Eine Morphiumentziehungskur
ließ die ursprüngliche Persönlichkeit wieder
in die Erscheinung treten. Dasselbe Spiel wiederholte sich
mehrfach, denn sie verfiel dem Morphinismus noch zu
öfteren Malen.
Oft ist der Wechsel der Persönlichkeit von schweren
Gedächtnisstörungen begleitet, so daß der betroffene Patient
von dem Leben seines anderen Ich gar keine Kenntnis besitzt
. Ferner geht die Zeit des Schlafes unserem Ich fast
völlig verloren. Bis auf ganz geringe Teile der Träume
wissen wir von den seelischen Vorgängen während des
Schlafes nichts, so daß es unmöglich erscheint, daß im
*) Diese logisch unhaltbare Argumentation ist schon oft genug
widerlegt worden! Wie die (gleichfalls unsichtbare) Elektrizität
bald da, bald dort sitzt, so seheint — abgesehen von den bekannten
Experimenten mit Somnambulen (auch Wahnsinnigen), deren geistige
Persönlichkeit als „Doppelgänger" aus dem Körper heraustreten und
sich als bewußte Ich-Persönlichkeit anderswo betätigen kann — der
menschliche Geist (wohl eine noch höhere und feinere Naturkraft)
freilich jetzt an sein Organ, das Gehirn, festgebunden, woraus aber
keineswegs folgt, daß derselbe nicht später — nach dem Absterben
seiner körperlichen Hülle — frei werden und anderswo „sitzen*, resp.
fungieren oder auch sich ein neues, uns noch nicht vorstellbares
Organ schaffen kann. — Red.
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