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Phänomenales Gedächtnis eines Schwachsinnigen. 623
In der Diskussion erklärte Dr. Infeld, er habe vor
einigen Jahren in der Anstalt des Dr. Heller einen
Knaben gesehen, der den Kalender in ähnlicher Weise beherrschte
; nach einer Mitteilung des Dr. Heller hatte er
später einen katatonisch - halluzinatorischen Zustand und
verblödete gänzlich. — Prof. Dr. Hofrat v. Wagner berichtete
über einen 32jährigen Kretin, der zehn Jahre in
einem Zustand schauerlichen Blödsinns zu Bette gelegen
war. Nach Schilddrüsenbehandlung besserte sich sein Zustand
sehr auffällig und er bringt jetzt unter anderen
psychischen Leistungen eine ganz merkwürdige Gedächtnisleistung
zustande. Ohne lesen und schreiben zu können,
kann er im Kalender jeden beliebigen Namenstag bezeichnen
, respektive den Tag im Kalender, auf den der betreffende
Name fällt. Es handelt sich hier um eine Art
von Ortsgedächtnis, aber von einer gewissen Anpassungsfähigkeit
, denn er findet auch in ganz verschiedenen
Kalendern, in denen die Anordnung der Tage sehr
verschieden ist, immer den richtigen Tag. — Prof. Dr.
v. Frankl-Hochwart erklärt, sich eines zehnjährigen,
geistig überbegabten Knaben zu erinnern, der eine Vorliebe
für Eisenbahnfahrpläne hatte. Er wußte die Abfahrtsund
Ankunftszeiten unzähliger Züge auswendig; er brauchte
einen neuen Fahrplan nur zweimal zu überblicken, um ihn
auswendig zu können.
Am Schlüsse der Sitzung berichtete Privatdozent Dr.
v. S ö 1 d e r über das Ergebnis einer kurzen Exploration,
die er inzwischen an dem demonstrierten imbezillen Pflegling
zur Analyse seiner phänomenalen kalendarischen
Kenntnisse vorgenommen habe. Eine direkte Aufklärung
über den Mechanismus seiner Leistungen ist von dem
Pflegling nicht zu erhalten; wenn man ihn fragt, durch
welche Methode er den Wochentag für jedes Datum findet,
so sagt er eine der hierfür existierenden Formeln her, die
er aus einem Kalender auswendig gelernt hat; es ist aber,
wie schon Direktor Witzmann hervorgehoben hat, leicht
nachzuweisen, daß er selbst sich gar nicht dieser Formel
bedient.
Diese Formel vermöchte ihm übrigens auch gar
nicht zur Kenntnis der Daten der beweglichen Feste und
der Faschingsdauer zu verhelfen. Die kalendarischen
Kenntnisse des Pfleglings erstrecken sich auf die Jahre
1000 bis 2000. Mit dem Jahre 2000 schneiden sie vollkommen
scharf ab. Da jede Formel zur Bestimmung der
Wochentage sich ebenso gut auf die Jahre nach 2000, wie
auf die Jahre vorher anwenden läßt, so ist daraus zu er-
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